Morgens beim Anziehen wählt er seine Unterhose mit dem Gedanken aus, dass er, sollte er heute dran glauben müssen, im Leichenschauhaus, auf dem Obduktionstisch eine gute Figur machen möchte
Was bedeutet es, in der heutigen Zeit Polizist zu sein? In den letzten Jahren haben sie immer mehr Respekt eingebüßt, doch dabei vergisst man leicht, unter wieviel Druck Ordnungshüter stehen. Hugo Boris‘ kleiner Roman „Die Polizisten“ soll zur Raison bringen und einen Einblick darin geben, was es heißt, diesen Beruf in Zeiten von Flüchtlingskrisen und politischen Unsicherheiten auszuüben.
Ein gesellschaftlicher Konflikt der Gegenwart aus der Sicht dreier Polizisten
Virginie, Aristide und Érik sind Polizisten von unterschiedlichem Schlag: während der ältere Érik vom alten Schlag ist, der die Regeln aufs Genaueste befolgt, ist Aristide eher von der lockeren Sorte. Er hat stets einen flotten Spruch auf den Lippen und lässt auch gerne mal das Alphamännchen heraushängen. Doch wenn es zum Einsatz kommt, behält er stets einen kühlen Kopf. Virginie kommt gerade aus dem Mutterschutz, möchte aber gleich wieder an die Front. Sie steckt voller Ideale, die, wie sie bald feststellen muss, jedoch oftmals nicht mit dem Beruf vereinbar sind. Plötzlich werden die drei bei einem gemeinsamen Einsatz ihrem Gewissen ausgesetzt, woraus sich unterschiedliche Konfliktpotenziale entwickeln.
Boris konfrontiert den Leser mit den zwei Seiten eines Polizisten: dem Pflichtgefühl, das der Beruf mit sich bringt, sowie mit dem Privatmenschen, der von eigenen Sorgen und Gedanken geplagt wird. Was passiert, wenn beide Seiten kollidieren?
Als die drei zu einem Sondereinsatz gerufen werden, ändern sich ihre Einstellungen schlagartig; sie sollen einen Flüchtling zum nächstgelegenen Flughafen transferieren, damit dieser in sein Heimatland Tadschikistan ausgewiesen werden kann. Das Problem: Betritt er seine Heimat, ist sein Tod gewiss, da er für viele einflussreiche Menschen dort eine Gefahr darstellt. Die Fahrt zum Flughafen wird zum Spießrutenlauf an Gewissenskonflikten und beginnt mit der Frage: wann zählt das Pflichtdenken und wann wird es vom moralischen Anspruch abgelöst?
Ein diskussionswürdiger Roman, dem ein lockerer Umgangston fehlt
Es gibt zurzeit wohl kaum ein kontroverseres Thema, als das um die unzähligen Flüchtlinge, die in Europa auf ein besseres Leben hoffen. Obwohl das Buch in Frankreich spielt, ist es wohl dennoch auf jedes andere Land in Europa übertragbar. Es ist ein Thema, das Gesellschaft und Politik spaltet. Und obwohl es eine Problematik ist, über die viel diskutiert wird, wird vergessen, dass es immer noch Menschen sind, über deren Schicksal entschieden wird. Es ist wichtig, diesen Menschen eine Stimme zu geben, doch hat sich der Autor dagegen entschieden – stattdessen gibt er den Polizisten die Chance, gehört zu werden. Hugo Boris hält dies sogar so radikal, dass der Flüchtling, meist nur als „der Tadschike“ bezeichnet, so gut wie gar nicht zu Wort kommt. Stattdessen hängt der Leser den Gedanken der Polizisten nach, die mit sich und ihren Überzeugungen hadern. Was nach einer interessanten Idee klingt, ist in der Umsetzung jedoch nur halb geglückt. Der Schreibstil ist durchaus anspruchsvoll, da es ein Roman ist, der viel zwischen den Zeilen zu lesen verlangt. Doch um das Ausmaß der inneren Kämpfe und die Zerrissenheit vollends verstehen zu können, reicht dies leider nicht aus. Die Emotionen erscheinen zu wandelbar, zu plötzlich, anstatt dass diese sich situationsgemäß entwickeln.
Dabei wirkt der Roman von vorne bis hinten nur halb durchgegart – ob es nun die persönlichen Probleme der drei Akteure sind, die sich um Beziehungen und Verantwortung drehen, oder das Schicksal des Tadschiken. Ja, der Leser darf sich seine eigene Vorstellung davon machen, wie das alles zusammenpasst; vielleicht auch davon, wie die Zukunft in Europa rund um die Flüchtlinge weitergeht – denn das Schicksal des Einzelnen kann getrost auf die Krise im Ganzen übertragen werden: auf den unvermeidlichen, schockierenden Aufstieg des Rechtspopulismus. Dennoch erwartet man als Leser einen gewissen Grad an Genugtuung, einen Hoffnungsschimmer darauf, dass das derzeitige System nicht nur Lücken aufweist, sondern dass es auch Alternativen gibt – das hat der Autor leider verpasst.
Fazit:
Es ist ein Buch, das sehr viele Fragen offenlässt und sich gut für eine anschließende Diskussion eignet. Wer jedoch ein klareres Statement erwartet, der wird in diesem Buch keine Erlösung finden, sondern sich fragen müssen „Ist es wirklich notwendig, so mit Menschenschicksalen umzugehen?“
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