Das Mädchen mit dem Edelweiß

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2018
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  • New York: Riverhead Books, 2017, Titel: 'The Lost Letter', Originalsprache
  • München: Heyne, 2018, Seiten: 400, Übersetzt: Stefanie Fahrner
Das Mädchen mit dem Edelweiß
Das Mädchen mit dem Edelweiß
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Lea Gerstenberger
751001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2018

Manche Dinge werden erst durch einen kleinen Makel bedeutsam

Für die meisten Menschen sind Briefmarken gleichförmige Papierquadrate. Für einige wenige sind sie so wertvoll wie Diamanten. Eine mysteriöse Marke führt auf die Spur eines lang zurückliegenden Geheimnisses.

Es ist 1989, und die amerikanische Journalistin Katie Nelson kann ihr Leben getrost als Scherbenhaufen bezeichnen: Ihr Vater ist in einem Pflegeheim untergebracht, und sie muss mit ansehen, wie sein Gedächtnis von Tag zu Tag schwindet. Außerdem hat ihr Ehemann, der zu allem Übel auch noch ihr Chef ist, gerade die Scheidung eingereicht. Aus Briefmarken hat sie sich nie etwas gemacht, und da sie nicht weiß, was sie mit der umfangreichen Sammlung ihres Vaters anfangen soll, bringt sie sie in den Laden von Benjamin, damit er sie auf wertvolle Marken durchsieht – vielleicht ist ja ein Schatz dabei, wie Katies Vater ihn immer gesucht hat. Tatsächlich entdeckt Benjamin einen Brief aus dem Jahr 1939. Er wurde nie verschickt, doch die Marke ist besonders: Sie zeigt den Wiener Stephansdom, in den ein Edelweiß graviert ist. Eine seltene Unregelmäßigkeit, mit bloßem Auge kaum zu erkennen.

1939 steht Europa vor dem Abgrund, und mit ihnen die Fabers. Die jüdische Familie mit den beiden Töchtern Elena und Miriam lebte bisher unbescholten in dem kleinen österreichischen Dorf Großenburg. Christoph geht bei Friedrich Faber als Briefmarkengraveur in die Lehre. Er hat eine Schwäche für Elena und fühlt sich in Großenburg gerade heimisch, als die Deutschen einmarschieren, die Idylle zerstören und die Familie auseinanderreißen. Der nicht-jüdische Christoph wird fortan gezwungen, Briefmarken für die deutschen Besatzer zu gravieren. Heimlich tut er jedoch alles, um die Fabers und vor allem Elena zu beschützen. Und seine Kunstfertigkeit spielt dabei eine wichtige Rolle.

Als Leser tauchen wir abwechselnd in die beiden Zeitabschnitte ein und verfolgen einerseits die dramatischen Entwicklungen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, andererseits Katies und Benjamins Spurensuche im Jahr 1989. Die Balance zwischen der beklemmenden Atmosphäre der 30er-Jahre und der teilweise lockeren, romantischen Gefühlstöne zwischen Katie und Benjamin gelingt Jillian Cantor dabei sehr gut. Zwar erfüllt die Protagonistin so manches Liebesroman-Klischee – sie ist unzufrieden mit sich und der Welt, trinkt zu viel Wein und sucht in all dem Chaos nach sich selbst – die Geschichte der miteinander verwobenen Zeitebenen und Schicksale hat jedoch Tiefgang und bietet mit dem Briefmarkenthema eine originelle Idee. Die anderen Figuren zeichnen sich durch eine noch größere Vielschichtigkeit aus als Katie, sodass sie mir im Laufe des Romans richtiggehend ans Herz gewachsen sind.

Die Sprache ist einfach gehalten, der Roman lässt sich leicht und zügig lesen. Die historischen Hintergründe werden verständlich geschildert, aber nicht zu ausschweifend erklärt. Dabei gelingt es Cantor, die gegensätzlichen Stimmungen der beiden Zeitebenen lebendig einzufangen. Einerseits die Besatzung Österreichs durch die Nationalsozialisten, den Antisemitismus und den lebensgefährlichen Widerstand gegen das Vorgehen der Deutschen, andererseits den Vorabend des Mauerfalls mit der Hoffnung auf politischen Frieden. Stilistisch schwierig waren einzig die Wechsel der Erzählperspektive. Mich irritiert es meistens, wenn in einem Buch sowohl aus der Ich-Perspektive als auch in der dritten Person erzählt wird. In diesem Roman wechselt die Autorin sogar innerhalb mancher Erzählstränge zwischen Ich- und Er-Form, was ein wenig für Verwirrung sorgt und die Wirkung eher verfehlt.

„Das Mädchen mit dem Edelweiß“ ist kein reiner Liebesroman, sondern einer, der ein dramatisches Familienschicksal schildert und den Leser auf eine spannende Zeitreise mitnimmt. Das Geheimnis war zwar bereits nach etwa der Hälfte des Romans im Wesentlichen durchschaubar, dennoch blieb die Geschichte bis zum Ende hin spannend, und ich habe richtiggehend auf die Auflösung aller Verstrickungen hin gefiebert. Der Roman regt zum Nachdenken über die Vergangenheit an und zeigt, dass man bei allem Leid niemals Kampfgeist und Hoffnung aufgeben sollte. So ist Jillian Cantor eine berührende und schöne Geschichte gelungen, die ich kaum aus der Hand legen wollte.

Das Mädchen mit dem Edelweiß

Jillian Cantor, Heyne

Das Mädchen mit dem Edelweiß

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