Mit den Käfern leben, mit den Käfern untergehen
Unzeitgemäß sind diese Erzählungen, das kann man nicht abstreiten. Sie sind verschnörkelt und verwinkelt, schlagen einen Haken links und einen rechts, geben vor, immer weiter zu laufen, und kommen am Ende doch wieder dort an, wo sie zuvor losgelaufen sind. Weder Sachlichkeit noch Strenge sind in ihnen zu finden, dafür aber viel Sprachverliebtheit und ein feiner Sinn für Textmelodie. Denn so wenig diese Erzählungen auf ein Ende hinarbeiten, so sehr sind sie doch darum bemüht, ihre Wirkung beim Leser zu entfalten. Sie erzeugen Stimmung, die man fast mit den Händen greifen kann. Langsam und geschickt bauen sie Erwartungen auf, lassen den Leser etwas ahnen und vermuten, ziehen das Geschehen in die Länge und steigern die Spannung. Am Ende steht niemals die große Sensation, sondern stets ein harmonischer Ausklang, der sich nahtlos in den Verlauf und die Stimmung des Textes einlässt. Unzeitgemäß sind diese Erzählungen also, da sie ohne viel Krawall und Scheinwerferlicht auskommen. Weder Helden noch Schurken sind darin zu finden. Die Welt geht nicht unter und wird nicht gerettet. Es sind ruhige Geschichten, die zum Schmunzeln und Genießen anregen.
Der Käfersammler – der Protagonist der namensgebenden Erzählung – ist eine sehr unzeitgemäße Person. Er lebt abgeschieden in einem alten, hölzernen Haus nahe dem Moor, wo ihn niemand aufsuchen und stören kann. Mit anderen Menschen hat er kaum Kontakt, da er die Tage damit verbringt, im Wald und im Moor nach seltenen, besonders schönen Käfern zu suchen. Er fängt sie, spießt sie auf und befestigt sie in einem Schaukasten, der an die Wand gehangen wird. Tag für Tag geht er dieser Tätigkeit nach, stets darauf bedacht, vor Einbruch der Dunkelheit seinen Weg zurück zu nehmen und sich nicht zu weit ins Moor zu wagen, da es durchaus gefährlich werden und ihn verschlingen kann. Die Sammlung wächst, immer mehr Schaukästen zieren die Wände, so dass er bald gezwungen ist, zusätzlichen Platz zu schaffen. Zwischenwände zieht er ein und behängt sie mit den Käfern. Mit der Zeit wird sein Haus zum Museum und Labyrinth, aber daran stört er sich nicht, schließlich hat er nur eine Leidenschaft und willentlich ordnet er ihr alles weitere unter. Er ist ein komischer, aber sympathischer Kauz, der ruhig und zurückgezogen sein ganz eigenes Leben führt.
Das Ende kommt so überraschend wie scherzhaft daher, reißt den Leser und den Käfersammler aus dem verträumten Alltag. Eine besonders missmutige Käferart hat sich in das Holz des Hauses gefressen und höhlt es langsam, aber sicher aus. Die Balken und Böden werden morsch, der Zusammenbruch des Gebäudes ist nur noch eine Frage der Zeit. Seinem Schicksal ergeben, weigert der Käfersammler sich jedoch das Haus zu verlassen, frei nach dem Motto: Mit den Käfern leben, mit den Käfern untergehen. Er würdigt ihren Sieg. Und so unterliegt letztendlich der Käfersammler den Käfern.
In den weiteren Erzählungen zeigen sich verschiedene Charaktere, die ungewöhnlich, zugleich aber liebenswert oder bemitleidenswert sind. So kann man den Aufstieg und Fall eines Weihnachtsmannes beobachten, kann seine frühe Leidenschaft für die schönste Zeit des Jahres mit ihrem glänzenden Schmuck, dem Gebäck und den Geschenken schon im elterlichen Hause anschauen, bevor man ihn im Erwachsenenalter durch die Stadt stampfen sieht, von einer Weihnachtsfeier zur nächsten, um die Kinder und die Alten zu beglücken. Fasziniert vom Geist der Weihnacht versucht er immer besser und weihnachtlicher zu werden, die Figur des bärtigen Alten im roten Mantel so überzeugend wie nur möglich zu spielen. So sonderbar er auch ist, ereilt ihn das gleiche Schicksal, das jedermann treffen kann, seine Leidenschaft verkümmert mit den Jahren und sein Leben wird leer und träge, da er nichts mehr hat, worauf er sich freuen kann.
Es gibt einen sensationellen Mann im Zirkus, der den Zuschauern seine zwei Daumen präsentiert und sie damit fast um den Verstand bringt, einen Häftling mit Drang zur Freiheit und Träumerei, einen Klosterbruder, der Gott spielt und am Ende bitter enttäuscht wird, sowie einen gelangweilten Entfesselungskünstler. Sie alle wissen zu bezaubern und mit dem Scheinwerferlicht zu spielen. Am Ende verbeugen sie sich elegant und bedanken sich für die Aufmerksamkeit.
Die Aufzeichnungen eines Käfersammlers sind ein sprachlicher Schmaus, sie bestechen durch lange, gewundene Sätze in gehobenem Ton. Mitunter fragt man sich, wann dieses Buch wohl erschienen war, ob es am Ende des neunzehnten oder zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben wurde. Erstaunt stellt man dann aber fest, dass es 2018 auf den Markt kam, als solch schön verzierte Sprache schon vergessen geglaubt wurde. Unzeitgemäß im Ton und in den Figuren bietet es ganz besondere Unterhaltung für alle, die bereit sind, sich ein wenig Zeit zu nehmen und den leiseren Tönen zu lauschen.
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