Barbaren sind immer die anderen
China in den 1850ern. Im Reich der Mitte spitzen sich verschiedene Konflikte zu. Der Zweite Opiumkrieg, mit dem sich die Engländer und Franzosen Handelsvorteile sichern wollen, aber auch der Taiping-Aufstand, ein Bürgerkrieg, den ein vom Christentum inspirierter Fanatiker ins Leben ruft, um die kaiserliche Dynastie zu stürzen.
In „Gott der Barbaren“ geht es jedoch nicht nur um den Handelsimperialismus und eine Minderheitenrevolution, die mit 20 bis 30 Millionen Todesopfern einer der blutigsten Bürgerkriege der Geschichte war, im Westen aber weithin unbekannt ist. Vielmehr nimmt Stephan Thome das historische Material zum Anlass, den Umgang mit dem jeweils Fremden zu ergründen, philosophische Diskurse anzubringen und die Entwicklung des chinesischen Selbstverständnisses zu erläutern.
Das Geschehen verfolgen wir episodenhaft aus verschiedenen Perspektiven. Zwei der Protagonisten sind historische Figuren. Lord Elgin, der britische Sonderbotschafter, ist durchaus in der Lage, das selbstherrliche Handeln seiner Nation moralisch zu hinterfragen. Nicht zuletzt, weil ihm sein Sekretär Maddox immer wieder den Spiegel vorhält. Gleichzeitig agiert er mit großer Härte, scheut nicht vor Grausamkeiten zurück und lässt den Alten Sommerpalast, ein wertvolles Kulturerbe, im Rahmen einer Vergeltungsaktion in Schutt und Asche legen. General Zeng Guofan steht auf der Seite des chinesischen Kaisers und kämpft mit seiner Armee gegen die Taiping-Rebellen. Und dann gibt es noch den deutschen Missionar Philipp Johann Neukamp, der sich zunächst für die Sache der Rebellen begeistert, aber rasch erkennt, dass aus der Lehre von Hong Xiuquan, der sich für den jüngeren Bruder Jesu hält, nur Terror entsteht. Dazwischen werden Ausschnitte aus dem Tagebuch einer jungen Chinesin und Zeitungsberichte aus dem fernen London präsentiert, um das Bild des Geschehens abzurunden.
Der Einstieg in den Roman fällt nicht ganz leicht, da man sich als Leser nicht nur an die tendenziell unbekannte, fast exotische Umgebung, sondern vor allem an viele Namen und Orte gewöhnen muss. Nach einer Weile eröffnet sich aber die Absurdität menschlichen Handelns in allen Facetten. Dabei wird enorm viel Wissen in die komplexe Handlung eingeflochten. Das Aufeinanderprallen verschiedener Mentalitäten wird anhand philosophischer Konzepte von Hegel bis Konfuzius verdeutlicht, vor allem aber wird das gegenseitige kulturelle Unverständnis greifbar. Der „Gott der Barbaren“ ist also jener der Briten, den sich die Rebellen auf verquere Weise zu eigen machen, was die Briten selbst gar nicht gutheißen. Die kaisertreuen Chinesen sehen die einen wie die anderen als kulturlose Wüstlinge, die man eines Tages hoffentlich mit ihren eigenen Waffen schlagen wird. Die Briten, die sich beinahe wie Kolonialherren geben und ihre Interessen mit militärischer Gewalt durchsetzen, halten wiederum die chinesische Tradition für rückständig, den Staat für unzureichend, die Menschen für dumm. Versuche, der Gegenseite jeweils näherzukommen und so das Fremde zu verstehen, unternehmen nur wenige, nicht immer zu ihrem Vorteil. So bleiben stets die anderen die Barbaren, deren fehlende Zivilisiertheit nur verachtet werden kann.
Die Hauptfiguren bleiben größtenteils eher unnahbar, manchmal vergisst man beinahe, wessen Perspektive man gerade verfolgt. Lord Elgin ist charakterlich am meisten ausdifferenziert, die anderen wirken bisweilen schablonenhaft und wie die bloßen Transporteure der Rahmenhandlung. Diese ist mit einer Fülle an Details ausgestattet und bietet einen umfassenden Einblick in das Geschehen. Es ist weniger das Zusammenspiel der Charaktere, das den Roman interessant macht, sondern es sind die Momente, in denen Thome die Figuren auf einer Metaebene an die Grenzen ihrer eigenen Logik stoßen lässt und ihnen und dem Leser vor Augen führt, dass es auf die eigenen, als gegeben erachteten Werte und Normen, stets auch eine andere Sichtweise gibt.
Stephan Thome hat Sinologie, Religionswissenschaft und Philosophie studiert. Er weiß also, worüber er schreibt, und das merkt man dem Roman auch an – er will den Leser intellektuell ansprechen. Dennoch erscheint „Gott der Barbaren“ bisweilen zu breit und zu groß angelegt. Einerseits sind viele Ausführungen nötig, um die Sachverhalte überhaupt zu verstehen, andererseits ist die Geschichte so doch oft recht langatmig geraten, manches wiederholt sich. Der Schreibstil ist mal packend und nah am Geschehen, mal mit trockenem Humor gespickt, gelegentlich ein wenig zu distanziert. Es gelingt dem Autor nicht, handlungstechnisch über die ganzen 700 Seiten hinweg die Spannung aufrecht zu erhalten. Teilweise macht das Buch wirklich Mühe, es ist keines, das man „mal eben“ liest. Vielfach wird die Aufmerksamkeit dennoch mit wichtigen gedanklichen Ansätzen und geistigen Anregungen belohnt, die in das Romangeschehen eingebettet sind, anstatt mit erhobenem Zeigefinger präsentiert zu werden.
Starke und schwächere Eindrücke wechseln sich bei der Lektüre von „Gott der Barbaren“ also ab. Das Buch ist lang und der Inhalt dicht, und so fordert es den Leser von Anfang an. Gerade in den Details steckt aber oft der Reiz, und damit ist Stephan Thome eben doch nicht nur ein moralisierendes Lehrstück, sondern unterm Strich ein beeindruckender und ziemlich intelligenter Roman gelungen.
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