Die Hoffnung der Kinder
Die Leute sterben. Sie werden krank, verlieren jegliche Kraft und brechen zusammen. Die Krankheit frisst sich in sie und raubt ihnen das Leben. Ihre Körper verwesen in den Krankenhäusern, in den heimischen Betten oder einfach auf der Straße. Überall sind sie zu sehen und zu riechen. Niemand wird mehr auf dem Friedhof beerdigt. Das macht keinen Sinn mehr, da die Zahl der Toten so rasant wächst. Außerdem versucht jeder, der mysteriösen Krankheit aus dem Weg zu gehen, sich selbst zu retten. Man versucht den Kranken und Toten nicht zu nahe zu kommen. Vielleicht bleibt man verschont, kann sich in abgeschiedener Isolation vor der Krankheit retten, während draußen der Gestank der Toten durch die Straßen weht.
In Niccolo Ammanitis Roman Anna gibt es wenig Hoffnung. Das Ende der Menschheit ist gekommen. Eine unbekannte Krankheit fällt überraschend über die Bewohner der Erde und lässt ihnen keine Zeit, sich zu wehren und nach einem Gegenmittel zu forschen. Der Tod kommt rasch. Nach kurzer Zeit sind die Städte entvölkert und dem Verfall preisgegeben.
Verschont von der Krankheit bleiben die Kinder. Sie sind immun gegen die Apokalypse. Doch sobald sich etwas in ihrem Hormonhaushalt ändert und sie zu jungen Erwachsenen werden, erwischt es auch sie. Im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren ist somit Schluss für die Kleinen.
Eine Welt voller Kinder wird im Roman beschrieben. Sie streifen durch die Ruinen der Zivilisation, auf der Suche nach Nahrung, Medikamenten und allem, was ihnen im Kampf ums Überleben nützlich sein kann. Sie sind auf sich allein gestellt, haben keine Eltern, die ihnen erklären, wie sie sich zurechtfinden und überleben können. Anna – die Heldin und Namensgeberin des Romans – hat lediglich ein Notizbuch ihrer Mutter, in denen einige wichtige Hinweise vermerkt sind. Darin wird sie zur Vorsicht gemahnt, aber auch darauf vorbereitet, dass die Krankheit sie eines Tages holen wird. Außerdem soll sie auf ihren kleinen Bruder Astor achtgeben. Er ist noch zu klein, um die Grausamkeit der Welt zu verstehen. Anna muss ihn beschützen und versorgen.
Anna unternimmt Expeditionen in die nahegelegene Stadt, um alles Nötige für sich und Astor zu besorgen. Damit er keinen Unsinn macht, erzählt sie ihrem kleinen Bruder von großen Gefahren, die auf ihn lauern, sollte er es wagen, das Haus und das Grundstück zu verlassen. Auf diese Weise will sie sicherstellen, dass der Kleine nicht davonläuft, während sie unterwegs ist und nicht auf ihn achten kann. Jedoch geschieht das Unvermeidliche in einer Welt voller wilder Kinder: eine Bande dringt in das Haus ein, während Anna abwesend ist. Sie nehmen Astor mit und machen ihn zum Bandenmitglied.
Schwere Vorwürfe macht sich Anna, da sie ihre Aufgabe, auf Astor acht zu geben, nicht erfüllen konnte. Ihre Mutter wäre sehr enttäuscht von ihr gewesen. Aber jammern bringt Anna nicht weiter und Astor nicht zurück, also macht sich das unerschrockene Mädchen auf den Weg, ihren Bruder zu suchen. Sie fürchtet sich weder vor der Bande wilder Kinder noch vor anderen Gefahren, die ihr begegnen. Da sie keine Eltern hat, die ihr helfen können, lernt Anna schnell sich durchzuschlagen, nicht zimperlich zu sein und dem Grauen der untergehenden Welt entschlossen entgegenzutreten.
Der Autor siedelt seinen Roman in Sizilien an. Aber die Katastrophe hat die gesamte Welt ergriffen, denn sämtliche Kommunikation ist zusammengebrochen und niemand kommt auf die süditalienische Insel, um die Kinder zu retten. Sizilien ist abgeschnitten vom restlichen Italien, es gibt keine Anbindung ans Festland. Die Kinder wissen nicht, was außerhalb der Insel vor sich geht, ergehen sich in Spekulationen und machen sich mitunter Hoffnung, dass die Krankheit auf dem Festland nicht so schlimm gewütet hat. Sie hoffen auf Erwachsene, die ein Gegenmittel gefunden haben. Denn der bevorstehende, schnelle Tod macht ihnen Angst.
Niccolo Ammaniti hat einen unterhaltsamen Roman über die Hoffnung geschrieben. In einer Welt, in der alles verloren scheint, zeigt er auf, wie sich die überlebenden Kinder an jeden nur denkbaren Strohhalm klammern, um nicht die Gewissheit des nahenden Todes ertragen zu müssen. Sie fantasieren über magische Getränke, Wunderschuhe und glauben, dass sie irgendwann eine Lösung finden werden, wenn sie nur immer weiter ziehen und die Suche nicht aufgeben. Das Szenario der Krankheit, die alle Erwachsenen und Jugendlichen tötet, verleiht dem Ganzen die nötige Dringlichkeit und Dramatik. Man fiebert mit der tapferen Anna mit und hofft, dass sie vielleicht doch recht hat, einen Ausweg für sich und den kleinen Bruder findet.
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