Von Annäherungen und Abstoßungen
>Das Leben des Vernon Subutex 3
Auf den ersten Blick scheint die Geschichte sich nur zu drehen um eine kleine und lose Gruppe von Menschen, die in Paris leben. Menschen, die Geld haben oder nicht, die Musik der 1980er hören und Drogen nehmen, die Pornofilme produzieren oder ansehen, die einen ungesunden Lebensstil pflegen, dies alles in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts. Menschen die irgendwann einmal, vielleicht, Hoffnungen und Träume hatten, die sich auf eine Vorstellung von einem lebenswerten Leben bezogen.
Paris ist bevölkert mit Menschen, die im Zuge des technologischen Wandels ihre ökonomische Existenz verloren haben. Neue Technologien schaffen Arbeitsplätze, aber nicht netto. Eine Frau hat in einem Labor Fotos entwickelt. In Zeiten der Digitalfotografie ist ihr Beruf ein Anachronismus. Ein Literaturdozent ist Alkoholiker geworden. Nicht wegen Arbeitslosigkeit, sondern wegen der Sinnlosigkeit seiner Arbeit im Angesicht einer wachsenden Zahl von jungen Menschen, die kaum mehr Interesse an Literatur haben oder gleich gar nicht (mehr) lesen. Rentner können von ihrer Altersversorgung nicht leben.
Es gibt einige Menschen, die rückblickend den sogenannten Fehler gemacht haben, auf etwas gesetzt zu, was keine Zukunft hatte. Oder die den Fehler gemacht haben, älter zu werden und irgendwann angeblich unfähig sein sollen, sich auf etwas Neues einzulassen.
Gewalt ist allgegenwärtig. Ein Mann misshandelt seine Frau. Ein Mann wird Neo-Nazi und misshandelt Obdachlose. Die Tochter eines Polizisten nimmt das Recht in die eigene Hand. Der Filmproduzent und sein Missbrauch von Frauen setzen eine Handlung in die Gänge, die für die Erzählung bestimmend ist.
Das Paris, das Despentes beschreibt, hat wenig zu tun mit touristischer Attraktivität, mehr mit Charles Dickens und den Eingeweiden Londons, zumindest in der Tendenz.
Virginie Despentes behandelt in ihrem Zeitbild >Das Leben des Vernon Subutex
Despentes klagt nicht an, aber sie übt Kritik. Es sind Mechanismen beobachtbar, die so alt sind wie die Politik. Innenpolitische Spaltung wird erzeugt, weil jemand daraus Nutzen zieht. Hass auf Migranten, Schwarze, Frauen, Schwule, Arme wird erzeugt, weil jemand daraus Nutzen zieht. Menschen leben auf Kosten anderer Menschen, dies in vielfältiger Weise. Es kommt darauf an, Wege zu finden, dieses Bedürfnis bestmöglich zu befriedigen. Ein universelles Problem, an dem auch mehr als 2000 Jahre Kulturgeschichte des Menschen nichts geändert haben. Vielmehr wird seit Jahren diese Entwicklung mit wachsender Intensität vorangetrieben.
Vernons Pfad wird weiter ausgemessen und mündet in eine Kleingruppe, in der seine Freunde Mitglieder sind, eine Gegenfigur zu den sozialen Netzwerken. Die Menschen von heute haben, folgen sie der herrschenden Reproduktionslogik, zwei Möglichkeiten: sie vereinzeln und vereinsamen, oder sie gehen als Ressource im großen Kollektiv auf. Nichts ist mehr beherrschbar, man selbst wird beherrscht oder ist als Ressource bedeutungslos. Die Attentate von Paris verändern die Sicht nicht nur auf die Welt, in der vieles klarer zutage tritt. Sie verändern auch die Sicht auf die eigenen Möglichkeiten. In einer Gesellschaft zwischen Terror und Korruption entwickelt sich die Hoffnung, ein Leben in kleineren Gruppen sei möglich. Die Perspektive der Kleingruppe wird erweitert um die Nutzung heute archaisch anmutender Technologien, durch welche die Qualität der Welt und des Lebens darin vielleicht einmal zunehmen werden.
Wichtig für das Gruppengefühl ist etwas, das die Hyäne eingeführt hat: die Verabschiedung von Geräten, die sich orten lassen. Auch wichtig sind die Zusammenkünfte in der kleinen Gruppe zu Tanzveranstaltungen (Raves), bei denen Vernon Subutex für die Musik sorgt. Eine solche Zusammenkunft wird bezeichnet als Convergence, eine spezifische Form von Widerstand mit politischen Folgen, die bei Despentes bis in die fernere Zukunft reichen.
Filmproduzent Dopalet hat aus Fernsehserien gelernt, dass die Welt sich in zwei Kategorien aufteilt: „Die einen begreifen, dass Krieg herrscht, die anderen klammern sich an ihr früheres Leben.“
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