Das Buch der vergessenen Artisten

  • Limes
  • Erschienen: September 2018
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Das Buch der vergessenen Artisten
Das Buch der vergessenen Artisten
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Monika Wenger
921001

Belletristik-Couch Rezension vonApr 2019

Hervorragender Lesestoff.

Vera Buck schreibt in ihrem Nachwort: „Wie Mathis konnte ich nicht akzeptieren, dass ihre Existenzen einfach so von den Nazis hatten ausradiert werden können. Dass es nicht einmal Einträge zu Verhaftungen oder Einweisungen gab!“ Im Roman «Das Buch der vergessenen Artisten» lässt Vera Buck nun all diese Menschen wiederaufleben. Zum Beispiel Flora le Dirt, die Riesendame, der Eisenkönig Siegmund Breitbart, der schöne Andrahama, ein Zauberer aus Hagenbecks Völkerschau, die Zwerge, die Kraftfrau Charlotte Rickert und viele mehr. Das Buch erzählt vom Verschwinden der Jahrmarktkünstler Mitte der 30er-Jahre. Künstler, welche mit ihrem Anderssein, ihrer Abweichung von der sogenannten Norm ihr Brot verdienten und die dann plötzlich verschwanden.

Langweiler im Jahr 1902: Mathis Bohnsack ist der dreizehnte Sohn eines Bohnenbauern aus dem Dorf Langweiler. Der Namen des Dorfes ist Omen! Wie bereits seine Vorfahren soll auch er, der Tradition verpflichtet, Bohnen anbauen. Doch zwei gewichtige Gründe hindern ihn daran, in die Fussstapfen der Vorfahren zu treten: ein seit Geburt lahmes Bein und eine Bohnenallergie. Sein Vater und seine zwölf Brüder verachten ihn dafür und er wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit verprügelt und abgestraft. Einzig die Mutter versucht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den Jüngsten zu schützen. Leider kann sie der männlichen Übermacht nicht viel entgegenhalten. Und so bezieht Mathis Prügel um Prügel. Wer kann da nicht verstehen, dass er von einem anderen Leben träumt.

Als der Jahrmarkt wieder einmal in Langweiler gastiert und Mathis die Durchleuchtungsmaschine kennen lernt, ist es um ihn geschehen. Der fünfzehnjährige Junge ist fasziniert, beeindruckt und hin und weg. Der Gedanke, bei diesem Gerät bleiben zu können, lässt ihn nach einer gröberen Prügelattacke der Brüder, den Entschluss fassen, sich Meister Bo, dem Besitzer der Maschine, anzuschliessen und als Gehilfe mitzureisen. In der Folge arbeitet Mathis als Assistent und verdient sich so bei Meister Bo seinen Unterhalt. Die Existenz einer Welt ausserhalb von Langweiler war für Mathis nicht denkbar. Bis jetzt. Und nun reisen die Beiden mit Ross und Wagen Richtung Süddeutschland und anschliessend weiter nach Zürich. Für Mathis gibt es jeden Tag Neues zu entdecken und die Arbeit mit «seiner» Maschine ist alles was ihn absolut glücklich macht.

In Zürich arbeiten sie, Meister Bo und Mathis, im Panoptikum von Walter Brückner als Röntgenkünstler. Die gesundheitlichen Folgen der Röntgenstrahlen sind noch nicht bekannt. Allfälliges Unwohlsein, taube Glieder oder ähnliches wird nicht in Verbindung mit dem Röntgen gebracht. Als Meister Bo überraschend stirbt, übernimmt Mathis und ergattert sich einen festen Arbeitsplatz bei Direktor Brückner. Mit Meta, der Kraftfrau, freundet er sich an und schon bald sind die Beiden unzertrennlich. Das ungleiche Paar wird nach Paris an das «Folies Bergère», dem berühmten Variététheater, engagiert. Gemeinsam mit Ernsti, dem etwas unterstützungsbedürftigen Bruder von Meta, reisen sie nach Frankreich.

Mathis ist gesundheitlich bereits etwas angeschlagen, nimmt aber die tauben und absterbenden Gliedmassen hin. Auch Meta, die sich für ihren Beruf einsetzt und Ringkämpfe mit den stärksten Männern bestreitet, sich von Kanonenkugeln beschiessen und von Autos überfahren lässt, kämpft als Folge davon immer wieder mit gesundheitlichen Problemen. Während einer Vorstellung verletzt sie sich schwer. Der grosse Traum, nach Amerika zu reisen, löst sich in Luft auf und sie fällt in eine tiefe Depression. Die Heilung ist mühsam und auf der Suche nach Arbeit, verschlägt es die kleine Gruppe nach Wien. Doch hier verändert sich das politische Klima, wie in ganz Europa, täglich und schon bald steht der nächste Umzug an. Berlin. 

Berlin 1935: Mittlerweile leben Meta, Mathis und Ernsti in einer Wohnwagensiedlung am Rande von Berlin. Das politische Umfeld ist schwierig. Für Artisten gibt es kaum noch Auftrittsmöglichkeiten. Lokale werden geschlossen, Künstler verschwinden spurlos. Die Judenhetze beginnt. Berlin wird für die Olympischen Spiele aufgeräumt, sauber gemacht. Doch an geheimen Orten finden weiterhin Artisten- und Künstlertreffen statt. Ein Leben im Untergrund. Mathis hat bereits früh realisiert, was in seinem Umfeld passiert, deshalb beschliesst er, ein Buch gegen das Vergessen der Artisten zu schreiben. Ein Buch über Menschen mit Abnormitäten, über Artisten und Künstler und deren Verschwinden. Doch dieses Unterfangen ist gefährlich, weil von der Obrigkeit nicht gewünscht. Die Zeiten sind denkbar ungünstig für ein solches Vorhaben. In Meta erwacht deshalb wieder der alte Traum, nach Amerika zu reisen. Sie will das Vorhaben, welches wegen der Verletzung damals in Paris nicht hatte umgesetzt werden können, nun endlich in Angriff nehmen. Doch die Möglichkeiten sind beschränkt und das ganze Unterfangen ist sehr gefährlich. Schlussendlich können sie nur mit Hilfe der Artistengemeinschaft auf abenteuerliche Weise über Polen aus Deutschland flüchten.

Vera Buck beschreibt in ihrem Buch das Leben der Artisten und Künstler und deren Verschwinden während der 30er-Jahre. Sie alle finden einen Platz in diesem Buch gegen das Vergessen. Sie, welche gerade wegen ihrer Abnormitäten nur mühsam ihren Unterhalt verdienten und deshalb als Aussenseiter eine eigene Gesellschaft bildeten. Diese skurrile Gemeinschaft weckte damals das Interesse der Menschen. Die Haarakrobaten, die zusammengewachsenen Schwestern oder die Riesenfrau faszinierten das Publikum. Doch plötzlich durften diese aus der Norm gefallenen Wesen nicht mehr auf den Jahrmärkten auftreten. Sie waren Menschen, die nicht in ein beschönigtes Gesellschaftsbild passten und wurden deshalb ausgegrenzt. Mit viel Sachkenntnis und Liebe zum Thema, mit Witz und Humor führt die Autorin die Leser durch die Welt der Jahrmärkte, aber auch durch die sich verändernden Zeiten vor dem zweiten Weltkrieg.

Fazit:

Das Buch hat siebenhundertzweiundfünfzig Seiten und ist in jeder Hinsicht kein Leichtgewicht. Aber die gekonnte Erzählweise machen Lust aufs Lesen. Geschickt platziert sind viele kleine Nebenschauplätze und die entsprechenden Figuren, so dass die Geschichte nie an Spannung verliert. Die liebevollen, amüsanten Textpassagen wechseln ab mit den teils tragischen zeitlichen Hintergründen. Hervorragender Lesestoff.

Das Buch der vergessenen Artisten

Vera Buck, Limes

Das Buch der vergessenen Artisten

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