Von Liebe und Treue
Daphnis und Chloe, Kinder bekannter Familien aus Mytilene, wurden im Abstand von zwei Jahren, jeweils kurz nach ihrer Geburt, auf dem Land ausgesetzt und von Tieren gesäugt, von unterschiedlichen Hirtenfamilien gefunden und aufgezogen. Als Kinder weiden sie Ziegen und Schafe. Sie fühlen sich zueinander hingezogen, verlieben sich ineinander, ohne etwas über die Liebe zu wissen. Durch Versuch und Irrtum sowie die Nachahmung von Beobachtungen in der Natur lernen sie dazu. Der alte Hirte Philetas bringt ihnen etwas bei, und Daphnis wird von einer verheirateten Frau aus der Stadt in die Grundlagen der körperlichen Liebe eingeführt.
Sie haben mit einigen Fährnissen zu kämpfen, Anforderungen der Saisonarbeit, Trennung in der Winterzeit, Piraten, die Daphnis entführen, einem Rinderhirten, der Chloe entführt, Liebeskonkurrenten beider Geschlechter. Aber die allgegenwärtigen Gottheiten, Pan und die Nymphen sowie Dionysos und Eros, sind ihnen wohlgesinnt und helfen ihnen. Daphnis und Chloe erfahren kurz nacheinander von ihrer Herkunft und heiraten bald darauf auf dem Land.
„Daphnis und Chloe“ wird in seiner Entstehung um das zweite bis dritte Jahrhundert nach Christus angesetzt. Der Roman war zu der Zeit eine noch sehr junge Form, und die Einordnung von „Daphnis und Chloe“ als Hirtendichtung hängt einerseits zusammen mit dieser im Hellenismus entstandenen Tradition, andererseits mit der recht neuen Zuweisung zu Genreliteratur.
Die Handlung wird eingeleitet mit der Beschreibung eines Gemäldes durch den Verfasser, der sich veranlasst sah, mit dem Maler in Konkurrenz zu treten, dies auf seinem Gebiet, indem er den Inhalt des Gemäldes in Worte zu fassen versuchte. Das entstandene Werk widmet er Eros, den Nymphen und Pan. Für die Menschen erhofft er sich eine Heilswirkung.
Die Handlung folgt einem Muster, das beispielsweise für den Hollywoodfilm bestimmend ist: Junge trifft Mädchen, sie verlieben sich, es treten unerwartete Probleme auf, sie werden getrennt, durchstehen unliebsame Situationen, bleiben einander treu, kommen wieder zusammen. Dieses Muster, dass Raymond Bellour zusammenfasste mit den Worten, Programm sei die Erschaffung eines Paares, hat mithin weit in die Vergangenheit zurückreichende Wurzeln. Im Humanismus und Barock war die erotische Hirtendichtung eine literarische Hauptgattung. Motive des Romans finden sich auch in Shakespeares „Das Wintermärchen“. Diese Verbindungslinie macht die Lektüre auch für heutige Leser interessant.
Longos hat die Entwicklung einer zarten Liebe, die den größten Teil des Textes beansprucht, in einem Schutzraum untergebracht, in dem der Gott Pan und Nymphen angesiedelt sind. Der Name Daphnis ist dem Sohn des Hermes und einer Nymphe entlehnt. Chloe ist ein Beiname der Muttergöttin Demeter.
Longos setzt „Daphnis und Chloe“ in die antike Tradition des Motivs der unbekannten Herkunft, indem er sich auf „Antiope“ von Euripides bezieht, worin Zeus die Zwillinge Amphion und Zethos zeugt, die von ihrer Mutter ausgesetzt und von Hirten großgezogen werden. Zeus selbst wurde von der Ziege Amaltheia gesäugt, Romulus und Remus von einer Wölfin, Daphnis von einer Ziege und Chloe von einem Schaf. Sie werden von Anbeginn als gleichwertig behandelt. Der ländliche Raum erfährt eine Idealisierung durch einen reichhaltigen bukolischen Motivkomplex.
Auch wenn Daphnis und Chloe mit Beigaben ausgesetzt werden, die auf ihre höhere Herkunft schließen lassen, sind sie doch aus ihrem Herkunftsumfeld, ihrem sozialen Status mit Rechten und Pflichten gelöst und in eine Art Naturzustand versetzt. Am Ende gibt es ein zweifaches Erkennen mit Wiederaufnahme durch ihre Eltern. Dies bahnt ihnen den Weg zur Ehe. Ihre Gleichwertigkeit zeigt sich auch in der Herkunft.
„Daphnis und Chloe“ lässt sich fassen als ein Entwicklungsroman über das erotische Erwachen und die erste Liebe. Daphnis ist 15, Chloe 13 Jahre alt. Die Schmutzigkeit der Welt beschmutzt nicht ihr Leben. Ihnen kann ein Piratenüberfall nichts anhaben, in dessen Verlauf nicht Daphnis Chloe rettet, sondern sie ihn. Die versuchte Vergewaltigung durch Dorkon nehmen sie nicht als solche wahr, helfen dem Mann sogar noch, weil er sich dabei verletzt hat. Wie im Märchen entsteht eine Spannung aus kindlicher Erfahrungswelt und der Bosheit der Umwelt. Die Gleichwertigkeit von Daphnis und Chloe gerät kurzzeitig ins Wanken, nachdem Daphnis von der Städterin Lykainion in der Liebeskunst unterwiesen wurde. Aber es gibt jeweils Gegenkräfte, die die Qualität der Beziehung aufrechterhalten.
Anders als die Geschichte um die Entwicklung der Liebe beider Protagonisten, sind die Abenteuer reduziert auf kurze Episoden und Anspielungen. Während der Plot sich über bald zwanzig Jahre erstreckt, ist die Haupthandlung auf rund eineinhalb Jahre beschränkt.
Longos hat sein Werk streng komponiert. Jedes der vier Bücher weist die gleiche symmetrische Struktur sowie strukturierende Elemente und Momente auf. Beispielsweise wird die Handlung in jedem Buch durch je eine Nebenfigur vorangebracht, eine Nymphe erscheint im Traum, eine Syrinx (Hirtenflöte, Panflöte) wird auf den Boden geworfen.
Die Ausgabe von Manesse ist eine Neuübersetzung von Kurt Steinmann. Auf die Vorrede des Longos folgt der Romantext, ergänzt um elf Seiten Anmerkungen, ein achtzehnseitiges Nachwort des Übersetzers sowie eine abschließende editorische Notiz.
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