Messias

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Sebastian Riemann
751001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2019

Erlösung und Charisma, um dem Alltag zu entfliehen

Paul Helmer fliegt nach London und eröffnet eine Zweigstelle der Werbeagentur. Dort soll er mit dem größten, wichtigsten Kunden der Agentur, der aufstrebenden und finanzkräftigen Fluggesellschaft Oman Airlines, in ständigem Kontakt stehen. Er soll die Vorgehensweise absprechen und koordinieren. An vorderster Front, Schulter an Schulter mit dem Klienten. Wenn möglich, so zumindest stellt es sich Paul vor, in Dialog mit dem Scheich treten, der alles finanziert und entscheidet. Ein Mann aus dem Mittleren Osten, dessen Reichtum den orientalischen Märchen aus 1001 Nacht in nichts nachsteht. Paul hat viel von ihm gehört und stellt sich noch viel mehr vor. Meistens aber sitzt Paul nur in seinem kleinen Büro, faltet Papierflieger und schlägt die Zeit tot. Denn der Auftrag für Oman Airlines will nicht so recht durchstarten, vielmehr scheint er zum Scheitern verurteilt. Doch das will Paul nicht hinnehmen, das neue Leben in London hat er sich so interessant und aufregend vorgestellt.
Daheim ist seine Frau Inge um die Überbleibsel des Familiendaseins bemüht. Judith, die Tochter, kommt überraschend zu Besuch und richtet sich für eine Zeitlang wieder im elterlichen Haushalt ein. Jedoch will sie nicht mit der Mutter sprechen, nicht über mögliche Probleme in der Vergangenheit und auch nicht über die schwierige Umsetzung von einem anstehenden Projekt. Überhaupt vermeidet sie allzu viel Kontakt mit der Mutter. Meist schließt sie sich in ihrem Zimmer ein oder verbringt die Zeit im Garten. Dort werkelt sie an einem Speckstein herum, ein altes Projekt, das sie wieder aufnehmen will. Hin und wieder spricht sie von Ausstellungen, die sie organisieren will.
Inge ist unterdessen um ihr Ansehen besorgt, glaubt sich immerzu von den Nachbarn beobachtet. Sie möchte gern dem perfekten Bild einer Mutter und Frau entsprechen, möchte gut aussehen und positive Energie versprühen. Aber es will ihr nicht so recht gelingen, oft steht sie sich selbst im Weg und verhält sich wie eine verwirrte und orientierungslose Frau in mittleren Jahren, die von ihrem Mann und ihrer Tochter verlassen wurde.

Der Messias errettet die Schwachen und die Hilfesuchenden. Er gibt ihnen Hoffnung und zeigt ihnen den Weg in ein besseres Leben. Er verleiht dem menschlichen Dasein eine Bedeutung, die über den Alltag hinausgeht und allem Handeln einen Sinn gibt. Zwischen der profanen und der göttlichen Welt fungiert er als Vermittler. Deshalb folgen ihm die Leute und verehren ihn. Er kann sie erheben und dem wahren Sein näher bringen.

In Widmanns neuem Roman erscheint nicht der eine, große Messias, der die Welt erlöst, sondern vielmehr eine Vielzahl an kleineren Erlösern. Paul, Inge und Judith finden jeweils den eigenen Messias, jemanden, der ihnen Hoffnung und Kraft gibt, zu dem sie aufblicken können. Dadurch hoffen sie ihr alltägliches, mitunter tristes und wenig erfreuliches Dasein zu erhöhen.
Paul träumt von einem prickelndem Leben in London und arabischem Prunk. Dem Scheich würde er gern nahekommen, weil dieser über den gewöhnlichen Menschen steht. In seinem Glanz würde Paul sich gerne baden. Dann wäre er selbst jemand, nicht nur der Angestellte einer Werbeagentur, die um die Gunst eines großen Unternehmens buhlt.

Inge sucht ihr Heil bei einem spirituellen Guru in der Nachbarschaft. Der sitzt nicht meditierend auf einem Berg im Himalaya und versprüht überhaupt wenig Mystik, kann aber Inges Energieströme sehen und ihr bei der Erlangung der nächsten Bewusstseinsebene behilflich sein. Vielleicht kann er auch einfach nur gut mit Inge umgehen, versteht es auf ihre Wünsche und Ängste einzugehen.
Judith, die künstlerisch begabte und ambitionierte Tochter, schließt sich einer Gruppe Aussteiger an, die sich auf das Ende des Kapitalismus vorbereiten. Sie legen Beete an und versuchen sich selbst zu versorgen, damit sie unabhängig vom System werden können. Der charismatische Anführer der Truppe entspricht einem klassischen Messias, er verspricht Erlösung und die Überwindung der ungerechten Gegenwart. Mit nahezu religiösem Eifer folgen ihm die Mitglieder der Gruppe.

Fazit:

Messias ist ein unterhaltsamer Roman mit hohem Anspruch. Er will unser Streben nach Bedeutung und Erhöhung in verschiedenen Facetten darstellen. Dazu bedient er sich mehrerer Szenarien und Persönlichkeiten, die allesamt die Suche nach dem Außergewöhnlichen auszeichnet. Dabei verliert sich die Familie auf Kosten der individuellen Glückssuche und leider auch der Zusammenhalt des Buches, welches oft nicht zur Pointe findet und sich in den Einzelteilen auflöst.

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