Zwei Schicksale packend erzählt – ein Pageturner
„So viel Selbstbewusstsein bei einer jungen Frau? Sie ließ ihn tatsächlich stehen. Eine unerhörte Geste. Und genau das reizte ihn.“
Anna und Charlotte – zwei junge Frauen, beide 1899 geboren, doch ihre Leben könnten unterschiedlicher nicht verlaufen. Charlotte ist Gutsherrentochter, kommt aus gutem Hause, leidet jedoch unter ihrem cholerischen Vater. Ihr Leben spielt sich auf dem Land ab, wo sie als einziges Kind den landwirtschaftlichen Betrieb des Vaters übernehmen soll. Obwohl sie als Frau noch immer gegen Vorurteile zu kämpfen hat, beeindruckt sie durch ihr Wissen und ihren Biss. Doch eines ist ihr fremd: Das Leben in der Gesellschaft, zwischen Cocktailpartys und sündhaft teuren Kleidern, exotischen Früchten und mondänen Festen. Hier soll sie eingeführt werden und sich einen Namen machen.
Anna dagegen kommt aus einer ärmlichen Familie – kleines Haus, viele Geschwister, wenig Platz. Obwohl kaum Geld da ist, besteht die Mutter darauf, ihre Kinder eine Lehre machen zu lassen (damals musste dafür noch Lehrgeld bezahlt werden). Nach ihrer Lehrzeit zieht es sie ins desillusionierte Berlin, wo die Menschen nach dem Ersten Weltkrieg auf ein besseres Leben hoffen, schlussendlich jedoch in barackenartigen Wohnhäusern unterkommen und dort ihr Dasein fristen. Doch Anna hat Glück: Dank ihrer Fähigkeit als Näherin ergattert sie eine begehrte Stelle im Kaufhaus KaDeWe.
So verschieden sie ihre Leben meistern, so ähnlich sind doch die Schicksale, denen sich die beiden stellen müssen. Vor allem die Liebe ist in diesen unsicheren Zeiten selten eine Herzensangelegenheit: Oftmals sind Pflichtgefühl gegenüber der Familie und eine sichere Zukunftsplanung wichtiger, die wahren Gefühle bleiben auf der Strecke. Welche Entscheidungen sind sie gezwungen zu treffen? Schließlich bleibt die Frage: Zu welcher Schlussfolgerung kommen die beiden Frauen, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg aufeinandertreffen?
Eine Geschichte mit enormer Sogwirkung
Anna und Charlotte – wie beeindruckend sie ihre Leben gemeistert haben. Noch fesselnder wird die Geschichte, wenn man weiß, dass diese beiden Frauen die Großmütter der Autorin sind. Diese Familiengeschichte zieht einen in den Bann – zwei Leben, die gelebt wurden, zwischen den Weltkriegen gefangen, von Inflation, Armut und Nationalsozialismus durchgerüttelt, und trotzdem voller Stolz und Würde.
Wer sich den Text auf dem Buchrücken vor Beginn des Buches anschaut, wird bereits wissen, dass sich die beiden irgendwann begegnen werden. Nach mehreren hundert Seiten kommt jedoch die Irritation, dass sie sich noch immer nicht kennengelernt haben. Tatsächlich treffen Anna und Charlotte erst im letzten Kapitel aufeinander – doch diese letzte Schlusserzählung hat es in sich!
Was bleibt zu erzählen, wenn so viel hinter ihnen liegt? Wie sollen sie herausfinden, was sie verbindet, obwohl sie doch aus unterschiedlichen Leben kommen? Doch sie ziehen ein ganz eigenes Fazit, das einem Gänsehaut beschert und das Gefühl gibt, ein Epos beendet zu haben. So bleibt schließlich nur der letzte Satz, der hier nicht zurückgehalten werden soll: „Nichts haben wir verschwendet. Wir haben doch so viel mehr als nur zwei Handvoll Leben.“
Fazit:
Zwei Handvoll Leben zeugt von großer Erzählkunst. Anna und Charlotte sind einem so nah, wie es literarische (historische) Figuren selten vermögen. So intensiv kann Geschichte sein – emotional, einzigartig und beeindruckend. Eine absolute Leseempfehlung!
Deine Meinung zu »Zwei Handvoll Leben«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!