Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier

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Almut Oetjen
841001

Belletristik-Couch Rezension vonJul 2019

Existenzieller Klimawandel und Wirklichkeit als Abfolge von Verknüpfungen

Der Übersetzer Emil Lanz lebt auf dem Lido von Venedig und will seiner langweiligen Existenz mit seiner Schusswaffe ein Ende bereiten. Auf der Suche nach einem angemessenen Abgangsort verschlägt es ihn auf die Insel Torcello. Betrunken will er sich töten, als wenige Schritte von ihm entfernt ein Mann ermordet wird. Lanz weiß nicht, ob er noch lebt, im Sterben liegt oder bereits tot ist. Er gerät in einen undurchsichtigen Strudel aus Ereignissen, versucht, seine Wahrnehmungen zu verstehen und den Mordfall zu lösen, in den er hineingezogen wurde. Zugleich ist er auf der Flucht, weil ihn vielleicht jemand töten will. Er lernt auf seinem Weg Menschen kennen, die vorgeben, ihm helfen zu wollen.

Welcher unsichtbare Dritte steckt hinter alledem, was ihn kreuz und quer oder sinnbildlich von Nord nach Nordwest treibt - in die Sphäre sich verschiebender Realitätsebenen, wie bei Hamlet, oder in ein Kontinuum von Realitäten, die sich eventuell überlappen?

Gerhard Roths „Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier“ erscheint in einer Zeit eines verwirrenden gesellschaftlichen Klimawandels, einer Zeit sich auflösender Strukturen, deren Existenz teils als Naturgesetz angesehen wurde. Die Strukturen lösen sich immer auf und man passt sich an oder zieht fort.

Erstaunlicherweise ist Venedig eine Stadt, die auf mikroskopische Weise diesen Wandel abbildet. Manche mögen seufzen, andere abwehrend gestikulieren, aber Donna Leons Romane über Commissario Brunetti und Venedig begleiten diese Entwicklung seit vielen Jahren kritisch.

Gerhard Roth beschreibt Aspekte dieses Wandels am Schicksal seines Protagonisten Lanz. Der existenzielle Schmerz, die Unfähigkeit, ohne Lügen miteinander zu kommunizieren, machen nicht nur ihm zu schaffen. „Das Leben wächst den Menschen über den Kopf, sagte Emil Lanz‘ Mutter, Osteopathin, über ihre Patienten.“ Lanz‘ Umgang mit seiner Frau Alma und seiner Umwelt scheint bestimmt durch Sprachlosigkeit und Fremdheit. Eine Ehe, die in Missverständnisse und Lüge mündet, bewegt sich langsam ins Nichts.

Lanz arbeitet als Übersetzer, interessiert sich für Vögel und Bienen und Bücher. Den Anforderungen, die die Sphäre des Zwischenmenschlichen an ihn stellt, entzieht er sich, hat mit Nachbarn und Freunden so gut wie nichts zu tun und erzeugt innere Widerstände, die er in Alkohol tränkt, eine Jahreshälfte auf der Terrasse, die andere in der Stube. Geschäftig lenkt er sich von der eigenen Existenz ab, bestellt online einen Lavastrom von Büchern, der sich nach Füllung der Regale zu abenteuerlichen und gefährlichen Konstrukten auftürmt. Die Bücher will er nicht lesen, sie sind Bestandteil seiner lebenslangen Expedition in seine Unterwelt. Alma droht wiederholt durch einen einsturzgefährdeten Bücherturm verletzt und einmal gar erschlagen zu werden.

Die Ereignisdramatik lässt gegen Ende des ersten Drittels aus der Geschichte eine Krimihandlung werden. Diese führt Lanz zusammen mit einer Frau, die er zuvor wiederholt beobachtet und auch angesprochen hat. Sie nennt sich Julia Ellis. Sie schläft mit ihm, stiehlt seine Pistole, ihr Mann wird ermordet – ist sie eine Femme fatale?

Die Nähe zum Tod erzeugt bei Lanz keine zunehmende Entfernung vom Leben, trotz seiner wiederholten Beteuerungen. Auch kommt die Welt ihm nicht abhanden, er beginnt sie nur anders zu sehen. Die diffuse Bewegung zwischen der Suche nach dem optimalen Ort zur Selbsttötung und den ständig aufscheinenden Kleinigkeiten, die davon ablenken (sollen), wird mit der Kriminalhandlung in eine an Klarheit gewinnende Bewegung überführt, die eng korreliert ist mit der Fürsorge anderer Menschen. Der Tod, den, auf gewisse Weise zum Glück, ein anderer Mann gestorben ist, führt zu einem Prozess der Wandlung von Lanz.

Irritierende Menschen kreuzen den Weg von Lanz. Der Milliardär Egon Blanc, dessen prunkvolles Anwesen neben dem Lanzschen Grundstück zu sehen ist; Blancs undurchsichtiger Ziehsohn Rudolf Vogel, ein Falkner, der mit seinem geliebten Falken Alien als Taubenvertreiber unterwegs ist; der Pflanzen aus der Bibel nachzüchtende Mr. Ashby; der Imker, der durch das Werk Roths streift. Die beiden Frauen, deren eine, Julia Ellis, so undurchsichtig ist wie die Agentin Eve Kendall aus Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“, deren andere, Caecilia Sereno, ihr vielleicht kaum nachsteht.

Der Roman bildet nach „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“ den zweiten Band einer Trilogie mit Handlungsort Venedig. Wie im Vorgänger Michael Aldrian, arbeitet sich auch in „Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier“ die Hauptfigur an der Welt ab und droht darüber den Verstand zu verlieren, falls dies nicht längst geschehen ist. Einmal mehr ist in ähnlicher Funktion und relativer Wirkungslosigkeit der ermittelnde Commissario Galli dabei. Auch wird Philipp Artner erwähnt, der in „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“ an einem Kriminalroman mit Handlungsort Venedig arbeitet, in dem Aldrian mitspielt. Vielleicht ist Artner ja auch der Autor dieses Romans.

Roth baut in „Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier“ ein Haus, dessen einzelne Räume nachvollzogen werden können. Dazu gehört ein Zimmer, das nach Thomas Mann oder „Der Tod in Venedig“ benannt werden kann, ein recht großes Zimmer, gut ausgestattet. Es hat einen direkten Durchgang zum „Blow Up“-Zimmer nach einem Entwurf Michelangelo Antonionis. Zwischen beiden gibt es regen Durchgangsverkehr. Weitere Räume sind „Der Unsichtbare“, ein kleines Zimmer, das vielleicht auch nur eine Ecke im Ikea-Zimmer ist, einem größeren Raum, dessen Innenausstattung reich an Literaturverweisen ist. Die beiden größten Räume sind das Shakespeare-Zimmer „Der Sturm“ und das Physikzimmer „Das Multiversum“, zugleich die Titel für die beiden letzten Teile des Romans.

Der vierte und umfangreichste Teil ist „Das Multiversum“. Dabei denkt man vielleicht an Teilchenphysik und, da wir in Italien sind, an den Nobelpreisträger Enrico Fermi, nach dem das Fermilab in der Nähe von Chicago benannt ist, an dem der italienische Teilchenphysiker Giorgio Bellettini arbeitet. Aus beiden Namen lässt sich eine fiktionale Figur namens Giorgio Fermi erschaffen, die ihren Weg in den Roman gefunden hat. Aber welche Bedeutung hat die Vorstellung vom Multiversum in Roths Geschichte? Einmal heißt es im Roman, die Wirklichkeit könne sich für uns nur in unserem Kopf oder in unseren Wahrnehmungen abspielen.

Im Verlauf der unter der Oberfläche undurchsichtigen Handlung vollzieht Lanz mehrmals Übergänge im Bewusstseinszustand. Er schläft ein und wacht zumindest in seiner Wahrnehmung unter veränderten Bedingungen wieder auf. Hier werden Umschaltpunkte markiert, an denen Lanz sich disloziert fühlt, sich vielleicht in einer alternativen Welt befindet: Die Gehirnarchäologie erlaubt es, aus den Gehirnen Verstorbener Erinnerungen zu extrahieren; ein Verlag bietet Lanz an, das Gesamtwerk von Shakespeare ins Italienische zu übersetzen, wofür er einen Vertrag bekommt, der ihm über die Laufzeit von 25 Jahren monatlich 4000 Euro Einkommen sichert.

Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier

Gerhard Roth, S. Fischer

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