Irrungen und Wirrungen in der alten Bundeshauptstadt
Bonn, 1972: Willy Brandt wurde bei den vorgezogenen Bundestagswahlen nach dem Misstrauensvotum erneut zum Bundeskanzler gewählt. Doch trotz des haushohen Sieges bleibt die politische Lage weiterhin angespannt. Zu sehr sind die Akteure ihren Intrigen, Bestechungen und Machtspielchen verfallen. Das weiß auch Hilde, die Wirtin des „Rheinblicks“, ein Lokal, in dem sich regelmäßig die Bonner Politikszene zum Biertrinken und Pläneschmieden trifft. Auch Hilde selbst hatte sich in der Vergangenheit in das politische Ränkespiel hineinziehen lassen. Ein fataler Fehler, wie sie bald feststellen wird.
Zur gleichen Zeit versucht die junge Krankenschwester Sonja, eine gelernte Logopädin, Willy Brandt bei der Zurückgewinnung seiner Stimme zu helfen. Denn das Ringen um die Macht hat erst begonnen und die angehenden Koalitionsverhandlungen drohen durch den stimmlich angeschlagenen Brandt zu scheitern. Eine schwere Bürde für Sonja, denn nicht nur ist der neue alte Kanzler ein schwieriger Patient, auch die junge Logopädin selbst findet sich bald in den Intrigen der Bonner Politszene verstrickt.
In Bonn treibt sich zudem die junge Journalistin Lotti herum, um über die angespannte politische Lage zu berichten. Sie kommt in der WG von Sonja unter und macht zum ersten Mal Bekanntschafft mit dem Großstadtleben. Doch bald hört sie von einem Mord an einem unbekannten Mädchen und ermittelt auf eigene Faust. Und natürlich kommt auch eine Liebesgeschichte nicht zu kurz.
Eins steht fest: Brigitte Glaser hat sich eine Menge Stoff für ihre Mischung aus Politthriller, Krimi und Drama vorgenommen. Zu viel Stoff, wie die ständigen Perspektivwechsel nach nur 2-3 Seiten und die vielen für die Handlung unwichtigen Details zeigen. Zwar hat die Autorin eine beachtliche Recherchearbeit geleistet, doch an zu vielen Stellen spürt man zu sehr ihren Drang, möglichst all ihr erarbeitetes Wissen in das rund 400 Seiten starke Buch hineinzupressen. Die dadurch häufigen Unterbrechungen des Handlungsverlaufs und die vielen politischen Einzelheiten machen den Text zu einer anspruchsvollen und mitunter nervenraubenden Lektüre. Für jemanden, der die damalige Zeit nicht miterlebt hat (und eigentlich auch für alle anderen – immerhin liegt das Geschehen schon einige Jahrzehnte zurück), tragen die zahlreichen Nebenfiguren zusätzlich zur Verwirrung bei.
Hinzu kommt, dass die sehr unterschiedlichen Handlungsstränge an sich nur wenig überzeugen können. Zu flach sind die Geschichten der einzelnen Figuren herausgearbeitet, obwohl sie durchaus Potential haben. Das liegt vermutlich daran, dass ihnen immer nur in sehr kurzen Kapiteln Aufmerksamkeit zuteil wird. Längere Lesepausen sollte man dementsprechend nicht einlegen, denn sonst ist es schwierig, wieder in das komplizierte Handlungsgeflecht einzusteigen. Das Ende fügt die einzelnen Elemente leider auch nicht zufriedenstellend zusammen, ein bisschen weniger wäre spannender gewesen.
Punkten kann die Geschichte mit der Darstellung der gesellschaftlichen Atmosphäre jener Zeit. Sehr beispiel-, allerdings vielleicht auch zu klischeehaft, ist die Konstellation von Sonjas WG, in der es von Esoterik-Fan bis hin zum politischen Revolutionär alles zu geben scheint. Gut herausgearbeitet wurde die Aufbruchstimmung, die besonders bei den jüngeren Leuten zu spüren ist und der Emanzipationsgedanke, der zu jener Zeit immer weiter um sich greift. Ein interessanter Einblick in die deutsche Geschichte, auch wenn man sich diese spannenden Schnipsel mühsam aus dem verworrenen Handlungsgeflecht heraussortieren muss.
Fazit:
Brigitte Glaser legt in ihrem neuen Werk viel Augenmerk auf einen Haufen an Handlungssträngen, Nebenfiguren und unwichtigen Details. Die Handlung an sich bleibt dabei leider häufig auf der Strecke. Zudem fällt das Lesen durch den eigenwilligen Erzählstil mit ständigen Perspektivwechseln häufig schwer. Positiv hervorzuheben ist der gute Einblick in die deutsche Geschichte und Gesellschaft der 70er Jahre.
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