Auf Erden sind wir kurz grandios
- Carl Hanser
- Erschienen: Juli 2019
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- OT: On Earth We're Briefly Gorgeous
- aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag
- Hardcover, 240 Seiten
Ein Brief, der nie gelesen wird
Ocean Vuong ist mit 30 Jahren schon ein hochdekorierter amerikanischer Lyriker. Mit „Auf Erden sind wir kurz grandios“ hat er seinen ersten Roman veröffentlicht. Es ist der Brief eines Sohnes an seine vietnamesische Mutter, die ihn nie lesen wird - denn sie ist Analphabetin.
Die Aufarbeitung des eigenen Schicksals
Vuong selbst ist vietnamesischer Abstammung. In Saigon geboren, zog er mit zwei Jahren nach Amerika. „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist gleichzeitig eine Schilderung und eine Abrechnung mit seiner eigenen Vergangenheit. Der Junge im Roman heißt nicht Ocean, sondern Little Dog, weil herabwürdigende Namen vor bösen Geistern schützen - und was ist mieser als „Kleiner Hund“ zu heißen? Doch nicht immer scheint Little Dogs Familie daran interessiert zu sein, ihn zu schützen. Gewalt ist an der Tagesordnung. Entweder schlägt der Vater (als dieser noch zur Familie gehörte) die Mutter halb tot, oder die Mutter prügelt den Sohn. Lediglich Lan, die Großmutter, versucht Probleme anders zu lösen.
Was alle gemeinsam haben ist die Vergangenheit, was für Vietnamesen den Krieg mit all seinen Schrecken bedeutet. Auch Little Dog, der „die Gnade der späten Geburt“ erhält, leidet unter den Erlebnissen von Großmutter und Mutter. Die eine ist im Kopf nie wirklich in Amerika angekommen, geht noch immer in Deckung, wenn ein Feuerwerk abgebrannt wird, und erzählt immer wieder die gleichen Geschichten von damals. Die andere fragt, ob ein Kleid aus feuerfestem Stoff besteht, schläft weiterhin auf dem Boden, und rackert sich im Nagelstudio ab.
Unter diesen Traumatisierten wächst Little Dog auf. Er ist das Bindeglied zwischen der Familie und der Außenwelt, denn Sprache schafft Grenzen. Er ist der Einzige, der Englisch beherrscht. Im Nagelstudio ist „sorry“ das Zauberwort schlechthin, alle anderen Wörter sind unnötig. So wird der Amerikanische Traum für Little Dog zum Albtraum. Von den anderen Kindern gemobbt, lebt er mit der Familie in einer vietnamesischen Parallelwelt, die lediglich im Nagelstudio einen gemeinsamen Raum mit dem Amerika der Einheimischen findet. Nur sein Großvater (der eigentlich nicht sein Großvater ist) verschafft ihm einen Moment der Identität, als er ihn als seinen Enkel vorstellt. Erst als Little Dog den einige Jahre älteren Trevor kennenlernt, nabelt er sich ab. Aber selbst jetzt kann er die historisch bedingte Unterwürfigkeit nicht ganz ablegen. Doch entdeckt er seine Sexualität und damit sein eigenes Ich, was ihm Selbstvertrauen gibt. Aber bis er seinen eigenen Weg erkennen und sein Leben leben kann, muss er noch einige Verluste hinnehmen und Grenzen sprengen.
Eine brilliante, aber nicht einfache Geschichte
Das Erzählte ist nicht leicht zu verdauen. Immer wieder wechseln sich Szenen von familiärer Gewalt abrupt mit Szenen einmaliger Schönheit ab. Die Themen Liebe, Familie, Identität und Hoffnungslosigkeit werden in einer wunderbar poetischen Sprache behandelt, der man den Lyriker als Autor anmerkt. Überhaupt ist der ganze Text keine durchgehende Erzählung, sondern beleuchtet, wie in den Strophen eines Gedichts, Momentaufnahmen aus Little Dogs Leben. Es ist eben der Brief eines Sohnes an seine Mutter – kein durchgeplantes Schriftstück, sondern Gedanken, die ihm während des Schreibens kommen und, die er mal mehr, mal weniger ausführlich festhält.
Dabei ist es essentiell, dass die Mutter als Analphabetin den Brief nie lesen wird. Nur unter dieser Voraussetzung kann Little Dog sich alles von der Seele schreiben, denn die Mutter ist ein „Monster“, aber eben auch immer noch seine Mutter, die er trotz allem nicht verletzen will. Das macht „Auf Erden sind wir kurz grandios“ für den Leser zu einer sprachlich herausragenden, aber gleichzeitig auch schwierigen Lektüre. Man kann dieses Buch nicht herunterlesen - man muss sich hineindenken, das Geschriebene verdauen und sich Zeit nehmen, es wirken wirken zu lassen. Erst dann kann man das Ausmaß des Textes erfassen, was den Inhalt betrifft, aber auch, was seine Bedeutung ausmacht.
Fazit
Wer sich auf diese nicht einfache Lektüre einlässt, wird mit einer ausdrucksstarken, poetischen Sprache belohnt, die eine Geschichte über die Suche nach der eigenen Identität erzählt. Sie ist voller Schmerz, Verletzlichkeit, Einsamkeit, aber auch voller Hoffnung und, wie Vuong selber sagt, voller Versagen. Ein wunderbar passend gestaltetes Cover lässt das alles erahnen: ein einsames Reh auf einem Zebrastreifen, der Schutz verheißt, aber der, wie wir alle wissen, nur allzu oft nicht respektiert wird.
Man sollte also keinen Roman erwarten, den man im Wartezimmer oder in der Straßenbahn lesen kann. Aber ist man bereit, Zeit, Gedanken und auch Gefühle in diese berührende, aber nicht einfache Geschichte zu investieren, wird man nicht enttäuscht werden.
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