Halbdokumentarische Geschichte über ein unglaubliches Vorhaben
Bereits zum dritten Mal befasst sich Christoph Poschenrieder mit der Zeit des 1. Weltkrieges. 1917 beauftragte das Auswärtige Amt in Berlin den Autor Gustav Meyrink, einen Roman zu schreiben, in dem er klären soll, wer schuld am 1. Weltkrieg trägt. Meyrink nimmt das gut bezahlte Angebot an, drücken ihn doch Geldprobleme. Aber liefern kann er nicht, obwohl ihm die angeblich Schuldigen gleich mit dem Auftrag mitgeliefert werden: die Freimaurer und Juden sollen es bitte schön sein. Meyrink hat eine veritable Schreibblockade, die nicht zuletzt durch sein völliges Desinteresse am Thema geschuldet ist. Die wiederum bringt das Auswärtige Amt in Bedrängnis, denn das Kriegsende naht, und die Schuldigen müssen her ...
Auftrag und Autor existierten tatsächlich
Der Autor Gustav Meyrink ist heute nahezu in Vergessenheit geraten. Als uneheliches Kind geboren, wuchs er unter dem Namen Gustav Meyer auf, führte für kurze Zeit ein Bankgeschäft, änderte seinen Namen in Meyrink und wurde vor allem durch seinen Roman Der Golem und durch zahlreiche Artikel im Münchner Satireblatt Simplicissimus bekannt. Er war spiritistisch angehaucht, praktizierte Yoga und lebte als Bonvivant, der Geld ausgab, auch wenn er es nicht hatte. Der Auftrag des Auswärtigen Amtes, einen Roman zu verfassen, der die Schuld am 1. Weltkrieg den Freimaurern und Juden zuschanzen sollte, gab es wirklich - doch abgeliefert hat ihn nicht Meyrink, sondern Friedrich Wichtl, der keine Skrupel, hatte dieses Lügenwerk zu erschaffen.
Die Handlung wäre in wenigen Sätzen erzählt
Viel Handlung gibt es nicht im Roman - dafür aber umso mehr Gedanken um das zu erschaffende Werk. Der unpatriotische Meyrink nimmt zwar gerne den Vorschuss, aber die Seiten seines Notizbuches wollen sich nicht füllen. Erst als es eigentlich schon zu spät ist, kriegt er die Kurve, und dann - gibt das Farbband der Schreibmaschine den Geist auf! Er tippt trotzdem tapfer weiter, doch sind seine sich endlich einstellenden Gedanken nahezu unsichtbar für den Leser. Poschenrieder beschreibt diesen Meyrink kaum, nur durch seine Handlungen und Gedanken kann man den Freigeist und Lebemann entdecken. Ergänzt wird das Problem des zu schaffenden Romans mit der politischen Situation in München: Kurt Eisner und Erich Mühsam spielen eine Rolle - die Ausrufung der Republik durch den einen und das Maulen des Anderen, weil er eigentlich viel früher dran war, ihn aber niemand gehört hat; die Auflösung der öffentlichen Ordnung und die Flucht des Königs werden am Rande erwähnt. Die Situation der Soldaten und Verwundeten findet Erwähnung, die Arroganz mancher Offiziere weit ab der Front hinter ihren Schreibtischen auch. Natürlich ist Der unsichtbare Roman in diesem Sinne auch ein Kriegsroman, aber an erster Stelle steht die unfassbare Idee des Auswärtigen Amtes - die Kritik an der politischen Lage ist versteckt im Hintergrund.
Humor und gute Recherche prägen die Geschichte
Schon als Schüler befasste sich Poschenrieder mit Gustav Meyrink - da lag es nahe, das Kapitel rund um den kuriosen Auftragsroman näher zu beleuchten. Poschenrieder durchforstete einige Archive und bediente sich verschiedener Veröffentlichungen, um dieser „Mission Impossible“ auf die Spur zu kommen. Einige seiner Recherchenotizen sind in den Roman eingestreut, lenken die Aufmerksamkeit teilweise in die falsche Richtung, um dann sofort wieder durch andere Notizen korrigiert zu werden. Gewohnt scharfzüngig und mit aufblitzendem Humor erzählt Poschenrieder diese Posse deutscher Geschichte. Besonders die Schreiben Meyrinks an das Auswärtige Amt sind ein Meisterwerk an Satire und peppen den ansonsten langatmigen Rest des Geschehens etwas auf, genauso wie die Suche nach Schuldigen außer den schon so oft bemühten Juden und Freimaurern (es wird tatsächlich über Frisöre nachgedacht!). Dennoch ist das Buch über weite Strecken anstrengend zu lesen, weil eigentlich nichts passiert. Und zum Schluss fragt man sich doch, wie man ein so kurioses Unterfangen, wie die literarische Rechtfertigung und Schuldzuweisung für den 1. Weltkrieg, zwar humorvoll, aber so wenig interessant und fesselnd abhandeln kann.
Fazit
Der unsichtbare Roman hat nicht viel Handlung, die wird dafür aber umso ausführlicher beschrieben, wobei das Ganze mit Humor und Satire aufgearbeitet wird. Poschenrieder beleuchtet ein Kuriosum der deutschen Geschichte, das nicht vielen bekannt sein dürfte, und mahnt damit gleichzeitig, nicht alles zu glauben, was geschrieben steht.
Christoph Poschenrieder, Diogenes
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