Cremekekslächeln
Was haben eine nicht aus den Südstaaten stammende Großmutter mit dickem Südstaatenakzent, die sich zu jeder Mahlzeit quer durch die internationale Haute Cuisine kocht, ein zu einem halben Hakenkreuz erstarrter Händler, der sich darauf spezialisiert hat, Juden zu neppen, eine reimende Kleinwüchsigenfamilie mit nicht kleinwüchsigem Sprössling, ein schwuler „Reisehenker“, ein minderjähriger Möchtegernschauspieler mitsamt die Tollpatschigkeit zur Kunstform erhebender maman, ein über Evolutionstheorien fachsimpelnder Postbote und ein schmieriger Lude in Glitzerklamotten gemeinsam? Sie alle mäandern durch dieses Buch! Und das ist nur ein Bruchteil der schillernden Charaktere, die einem auf dessen Seiten begegnen…
Christine, in Anlehnung an die mittlerweile weltberühmte Süßigkeit Oreo genannt („jemand, der/die außen schwarz und innen weiß ist“), kommt als Kind einer schwarzen Mutter (Helen Clark) und eines jüdischen Vaters (Samuel Schwartz) zur Welt – eine äußerst ungewöhnliche Verbindung, die nicht jedem Mitglied der erweiterten mischpóke recht ist. Ihr Vater (der schmock) allerdings macht sich schon früh aus dem Staub, sodass Helen gezwungen ist, aus einem ihrer Talente (dem Klavierspielen) Kapital zu schlagen, um Oreo und deren kleinen, altklugen Bruder Jimmie C. ernähren zu können. Die beiden wachsen bei ihrer Großmutter Louise auf. Als Helen eines Tages von ihren Tourneen zurückkommt, hält sie die Zeit für reif, Oreo (die mittlerweile in so ziemlich jeder wissenschaftlichen Disziplin versiert ist, eine eigene Form der Selbstverteidigung erfunden hat und mit einer großen Portion chúzpe aufwarten kann) etwas anzuvertrauen: ihr Vater hinterließ ihr Socken, einen Stock (definitiv kein potz-Ersatz…) und einen Zettel mit kryptischen Hinweisen, die sie zu dem Geheimnis ihrer Geburt führen sollen – oj gewált! So macht sich Oreo auf eine Reise nach New York, ihren Vater zu finden und die Rätsel zu knacken. Und – wie könnte es anders sein – natürlich hat sie auf ihrem Weg eine Menge Prüfungen zu bestehen…
„Die Aufgabe erfordert die Kenntnis von Rechenarten, Thermodynamik und Wagenhebern. Sie ist unfair, ich lehne sie ab.“
Eine reine Beschreibung der Handlung wird einem so anspruchsvollen literarischen Experiment wie Oreo nicht gerecht. Fran Ross (von der sicher selbst einiges in ihrer liebenswerten Hauptfigur steckt: Tochter einer afroamerikanischen Mutter und eines jüdischen Vaters, machte sie ihren High-School-Abschluss in Rekordzeit, um sich nach dem Studium dem Journalismus – und dem Schreiben von Gags für Richard Pryor – zu widmen) hat einen Roman geschaffen, der wirklich nur schwer in Worte zu fassen ist. Die Wiederentdeckung dieses kleinen, aber feinen Buches ist ein echter Glücksfall, denn obwohl bereits 1974 verfasst, wirkt es über weite Strecken, als wäre es erst gestern geschrieben worden. Ross verbindet darin Elemente des absurden Humors mit philosophischen Betrachtungen über moderne Identitätskonzepte, und das alles mit einer Eloquenz, die sich durch eine Leichtigkeit auszeichnet, welche ihresgleichen sucht. Keine Minderheit, keine Gruppe, keine Subkultur, kein Lebensentwurf ist vor Ross‘ scharfem, funkensprühendem Witz sicher. Es geht ihr aber nicht etwa um Beleidigungen, reine Satire oder gar platten Klamauk; vielmehr verdreht und unterwandert sie alles, was wir von unserer Gesellschaft und ihren Individuen zu wissen glauben, und stellt sämtliche Ideen dessen, was es heißt, ein moderner Mensch zu sein, auf den Kopf.
„Sie war zu jedem Scheiß bereit, sie würde auch da hingehen, wo sie nicht erwünscht war, da reinplatzen, wo sie nichts verloren hatte, aller Welt beweisen, dass sie auch da war. Oreo war ein ziemlich zähes Luder.“
Darüber hinaus ist Oreo gleichzeitig auch noch eine zeitgenössische Umdeutung der griechischen Theseus-Mythologie (dazu muss man nicht wild am Subtext heruminterpretieren, vielmehr verrät Fran Ross diese explizite Intention selbst im Anhang, wo u.a. ein Figurenverzeichnis der Sage und deren Entsprechungen untergebracht ist). So gerät der Roman zu einer Art Panorama-Collage des Postmodernismus. Hinter all den Albernheiten, die mit geradezu unerhörter Intellektualität vorgebracht werden (gefühlt schlägt man alle paar Seiten etwas nach), verbirgt sich eine kritische Denkerin, die ihre Leser dazu anregen möchte, zu hinterfragen, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Kann man diesen Roman überhaupt in seiner Gänze verstehen? Vielleicht muss man das gar nicht. Denn unabhängig von allem anderen ist Oreo vor allem eines: irrsinnig (im wahrsten Sinne) lustig. So ist diese originelle, verwirrende und durch und durch coole Heldenreise am Ende doch viel zu schnell zu Ende, und man kommt nicht umhin, sich zu fragen, wo Fran Ross die gewiefte, einzigartige Oreo noch überall hätte hinschicken können, wäre sie selbst nicht viel zu früh mit gerade einmal 50 Jahren verstorben.
Viel mehr lässt sich über Oreo kaum noch sagen, was Max Czollek in seinem Nachwort nicht bereits auf den Punkt analysiert und viel differenzierter in die entsprechenden Kontexte einordnet. Dennoch muss man sich ihm an dieser Stelle nochmals ausdrücklich anschließen und Pieke Biermann (ihres Zeichens selber Autorin) den größten Respekt zollen: Sie zeichnet sich für die Übersetzung verantwortlich, und das ist in diesem Fall wahrer Höchstleistungssport. Biermann musste Jiddisch lernen (ein sehr hilfreiches Glossar wichtiger Begriffe befindet sich ebenfalls im Anhang), hochtrabende Wortgewandtheit (und –akrobatik) nachbilden, Fachwörter aus allen nur denkbaren Bereichen ergründen, zur Expertin werden für bekannte wie auch bislang völlig unbeleuchtete Nischen der Popkultur und der geisteswissenschaftlichen Traditionen, die sie hervorgebracht haben und bis heute beeinflussen, Mundarten, Dialekte und Slangs übertragen bzw. selber erfinden, sowie Sprachen durcheinander filtern - und dabei stetig den richtigen Ton treffen. Es scheint unglaublich, aber all das gelingt ihr, und zwar ohne dass der spezielle Humor des Romans verloren geht.
Fazit
Eins steht fest: Dieses Buch ist sicher nicht für jeden. Aber in vielerlei Hinsicht ist es auch wahrhaft außergewöhnlich. Wenn man sich von abgespacter, aber tiefsinniger Lektüre nicht abschrecken lässt, dann ist klar: man muss Oreo einfach lesen – denn sie verdient es, gelesen zu werden!
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