Ein vielseitiger Roman über den Kapitalismus, die Technokratie und die Menschen
Sie sind Studienfreunde, berufliche Rivalen, Nerds - vor allem aber sind Linus, Adam, Kasper und Niu enttäuscht von ihren bisherigen Lebensläufen. Linus hat seine Doktorarbeit geschmissen - ihm fehlen die Mittel, seine Ideen zu verfolgen. Stattdessen lebt er bei seiner Freundin auf Pump. Adam hat zu große Stücke auf sich selbst gehalten und prompt seinen Job verloren. Und Kasper wurde als designierter Erbe des Familienunternehmens zu Gunsten seiner Schwester übergangen. Niu dagegen will gar nicht über die Zukunft nachdenken müssen, sondern einfach im Takt bleiben und programmieren. Alle vier raufen sich zu einem Start-Up zusammen, um aus Linus‘ Vision eine App zu machen und sie auf den Markt zu bringen:
Das Ting – ein Navigationssystem fürs Leben. Namentlich angelehnt an die altnordische Institution des „Thing“, die skandinavischen Gerichtsbarkeiten, bündelt und übertrumpft es alles, was wir an Ratgebern und Lifestyle-Apps bisher kennen: Das Ting misst und trackt alle Körperfunktionen, beobachtet und analysiert die Umgebung und spricht personalisierte Empfehlungen aus. Und es lernt und verbessert sich dabei. Damit sind Linus, Adam, Kasper und Niu am Puls der Zeit – einer Zeit, in der Menschen sich nach Anleitung sehnen und ihre Souveränität bereitwillig abgeben, um sich mit Hilfe der Technik selbst zu optimieren. Es ist auch eine Zeit, in der fraglich ist, ob man sich Jesus oder doch eher Steve Jobs als Vorbild nehmen sollte - Marketing beherrschten sie immerhin beide.
Auch mit einer tollen Idee ist es allerdings gar nicht so einfach, Investoren zu finden. Deshalb lassen sich die vier Gründer auf einen werbewirksamen Deal ein: Sie verpflichten sich vertraglich, allen Empfehlungen zu folgen, die das Ting ausspricht. Bald können sie einander kaum noch einschätzen, wissen nicht, ob die Entscheidungen des Gegenübers vom Menschen kommen oder von der App. Das Start-Up spielt seine Gründer gegeneinander aus. Und mit jedem Update wird das Ting subtiler; es arbeitet biochemisch, sodass sie bald nicht mehr sicher sein können, ob die eigenen Gedanken und Empfindungen überhaupt noch von ihnen selbst stammen. Wo fängt Optimierung an, wo hört Freiheit auf?
Am Puls der Zeit
„Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht mehr zu unterscheiden“, wird Arthur C. Clarke im Roman zitiert. Mit seinem Entwurf des Ting als ultimativer Ratgeber-App trifft Artur Dziuk den digitalen Zeitgeist und weist gleichzeitig darauf hin, dass diese Erfindung keineswegs blanke Fantasie ist, sondern vielmehr direkt vor der Tür steht. Mit treffenden Beobachtungen, lakonischen Aussagen und prägnanten Zitaten zeigt er auf, wie ein Großteil der Gesellschaft heute mit Technologie umgeht – sensationsbegeistert, fasziniert und unkritisch. Auch die beinahe absurde Welt der Start-Up-Branche beleuchtet er schonungslos, bisweilen fast satirisch, aber dabei so unaufgeregt, dass der moralische Zeigefinger nie zu offensichtlich erhoben wird. Plastisch und teils bewusst überzogen flicht er die typische IT- und Marketingsprache der Gründerszene mit ein, die sich aber aus dem Kontext stets problemlos erschließt.
Das allerdings ist nur eine sehr gelungene Ebene von „Das Ting“. Das zweite, vielleicht hauptsächliche Augenmerk, liegt auf den Protagonisten, ihren Sorgen, Fehlern und Entscheidungsproblemen. Dabei gibt es nicht den einen Sympathieträger - die Abgründe sind bei allen vielseitig und machen es erst richtig interessant, die jeweiligen Perspektiven der vier Gründer zu verfolgen. Sie gehen auf unterschiedlichste Weise mit ihrer eigenen App um, und letztlich steht hinter den vier Geschichten die große Frage, was eigentlich wichtig ist im Leben. Wer will man überhaupt sein? Vor lauter Selbstoptimierung wird bisweilen vergessen, über die kapitalistische Ideologie hinter der Optimierung und ihren Werkzeugen auch nur nachzudenken. Zu solchen machen sich auch die Gründer, selbst die, die mit visionärem Idealismus an das Projekt herangetreten sind. Diese Dimension lässt ihre Luxusprobleme, die im Buch ein wenig zu häufig wiederholt werden, in verständlicherem Licht erscheinen. Besonders für junge Menschen ist das mentale Hadern nachvollziehbar, sodass sich die Geschichte vermutlich vor allem an die jungen digital natives, Millenials, also die Generationen Y und Z richtet.
Aus dieser zweiten Ebene heraus erklärt sich auch die recht lange Hinführung zum eigentlichen Geschehen rund um das Start-Up, wodurch der Leser mit allen Protagonisten bekannt wird und deren Eigenheiten einzuschätzen lernt. Entgegen der Aufmachung des Buches, welche spontan an Dave Eggers‘ „The Circle“ erinnert, kümmert sich „Das Ting“ in der Tat um mehr als nur die Frage nach den Risiken und Nebenwirkungen der dauerüberwachenden Nerd-Gadgets. Man kann den Roman auch als Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Trends begreifen, als Suche nach Werten und Prioritäten, mit denen sich Menschen in der globalisierten, digitalisierten Welt konfrontiert sehen. Das ist seine große Stärke, und durch die vier abwechselnden Erzählperspektiven wird es kaum langweilig. Wo man einen fulminanten Knall am Ende erwarten würde, entscheidet sich Dziuk ganz der Lebensrealität entsprechend für leisere Töne, was hervorragend passt. Stilistisch ist der Roman einfach und schnörkellos, dennoch liest man ihn gerne und wird durch den Inhalt zum Innehalten angeregt.
Fazit
Mit seinem Debüt ist Artur Dziuk eine beachtlich realistische Existenzgründergeschichte gelungen. Der Roman ist keine Dystopie, kein ferner Zukunftsentwurf, sondern angesiedelt im Hier und Jetzt. Dabei stellt er die richtigen Fragen und überlässt dem Leser das Antworten. Man würde die Entwicklungen in „Das Ting“ gerne als satirische Science-Fiction abtun, bekommt von Artur Dziuk aber eindrücklich gezeigt, dass die Gegenwart schon anklopft und es Zeit ist, sich ganz persönlich ihren Entwicklungen zu stellen.
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