Der Sturm
- Klett-Cotta
- Erschienen: August 2019
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- OT: Stormen
- aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek
- Hardcover, 267 Seiten
Eine schwierige Familiengeschichte
Nach dem Tod seines Ziehvaters kehrt Andreas in das Haus seiner Kindheit zurück. Das Gelbe Haus (auch Totes Haus genannt) liegt auf einer Insel in Norwegen, die lange Jahre Privateigentum des dort ansässigen Gutsbesitzers war. Hier, bei dessen Chauffeur Johannes, hat Andreas mit seiner rebellischen Schwester Minna gelebt, die er so verzweifelt liebte, dass er für sie große Schuld auf sich lud. In dem völlig zugemüllten Haus findet Andreas Hinweise auf seine leiblichen Eltern, die angeblich bei einem Flugzeugabsturz auf der Insel ums Leben gekommen sein sollen. Johannes taucht in seine Familiengeschichte ein und wird mit mehr Fragen als Antworten konfrontiert. Erst langsam erfährt er die wahre Geschichte über die Insel, seine Herkunft und die Machenschaften des Gutsherren.
Eine einsame Insel mit mysteriösen Bewohnern
Bevor Gutsbesitzer Kaufmann Teile seiner Privatinsel verkaufte, war er Alleinherrscher über das Eiland. Niemand kam ohne Erlaubnis auf die Insel und niemand verließ sie ohne sein Wissen. Schon immer an der Natur und an menschlichem Verhalten interessiert, etablierte er auf der Insel eine Art Kommune, die streng nach seinen Vorgaben wirtschaftete und lebte. Während der deutschen Besatzung fühlte er sich durch die Nazi-Ideologie bestätigt. Er eröffnete, auch aus persönlichen Gründen, ein Heim für arme Kinder, die er nach seinen Vorstellungen formen wollte.
Jetzt, Ende der der 1990er, ist er tot, doch das Misstrauen unter den Inselbewohnern ist immer noch da. Es gibt die neu Hinzugezogenen, die erst nach dem Krieg auf die Insel gekommen sind, aber es gibt auch noch genügend Alteingesessene, die wissen, was damals geschah. Doch sie schweigen eisern - ob aus Angst oder aus Scham lässt sich nicht genau sagen.
Unter diesen Voraussetzungen versucht Andreas, seine Familiengeschichte zu erfahren, die scheinbar eng mit den Machenschaften Kaufmanns zusammenhängt.
Ein Protagonist, der im Dunkeln tappt
Andreas berichtet die Geschichte aus seiner Sicht. Immer wieder schweift er in Erinnerungen ab. Er erzählt von seiner schwierigen Schwester Minna, die er abgöttisch geliebt hat, die ihn aber ein ums andere Mal enttäuschte. Er erzählt von Johannes, dem Ziehvater, der sie im Dunkeln über den Verbleib der Eltern lässt und auch sonst wenig preisgibt. Obwohl Andreas Nachforschungen angestellt hat, weiß er nur sehr wenig über seine Herkunft. Die Lücken füllt er mit Vermutungen, die er immer mehr zu seiner eigenen Gewissheit werden lässt, weil er einfach die Wahrheit nicht herausfinden kann, die er aber doch so dringend erfahren will. Erst ganz langsam nähert er sich, auch über den Umweg der selbst geschaffenen Wahrheit, den Tatsachen an und findet heraus, was damals wirklich geschah, was sein Hintergrund ist und wie alles zusammenhängt. Durch die Ich-Perspektive wird die Handlung begrenzt. Der Leser kann nur Wegbegleiter von Andreas sein, weiß nur das, was Andreas tut, erfährt oder sich zusammenreimt. Das macht die Geschichte schwierig, aber auch spannend, denn der Weg zur Wahrheit ist nicht gerade. Immer wieder wird ein Stück aufgedeckt, werden neue Zusammenhänge klar, andere dafür entpuppen sich als falsch und unwahr. Dabei ist es nicht leicht, Andreas zu folgen, denn er ist undurchsichtig und nicht sehr sympathisch. Seine Handlungen sind für den Leser nicht immer nachvollziehbar und manchmal völlig aus der Luft gegriffen und unlogisch.
Ein Schluss, der viele Fragen offen lässt
Sem-Sandberg hat mit „Der Sturm“ eine schwierige Familiengeschichte erzählt, die tief in eine dunkle Zeit Norwegens eintaucht. Sein Schreibstil ist dabei so komplex, dass man sehr konzentriert lesen muss, um alle Nuancen zu erfassen. Er entführt den Leser in eine atmosphärisch dichte und teilweise bedrohlich anmutende Welt, die wirklich ein wenig an die von Shakespeare geschaffene Insel aus dessen „Der Sturm“ erinnert. Dennoch bleiben für mich manche Szenen und Handlungen einfach unverständlich. Auch der Schluss offenbart zwar die Wurzeln von Andreas und seiner Schwester Minna, lässt aber auch sehr viele Fragen offen. Warum ist ihre Familiengeschichte so lange im Dunkeln geblieben? Und was ist der Grund für Andreas letzte Tat auf der Insel? Wieso überhaupt mussten Kaufmanns Machenschaften auf diese Art verheimlicht werden, wenn sie doch so vielen Menschen bekannt waren? Diese und andere Fragen lassen den Leser doch etwas ratlos zurück und machen die Geschichte, so brillant erzählt sie auch ist, sehr unbefriedigend.
Fazit
Gewohnt wortgewaltig erzählt Sem-Sandberg eine Suche nach Wahrheit und Identität. Der Leser begleitet Andreas in Abgründe der norwegischen und seiner eigenen Vergangenheit. Man sollte keine leichte Kost erwarten. Dieses Buch braucht Zeit, um gelesen und verstanden zu werden, wobei so manches auch rätselhaft bleibt. Es ist Literatur für Leser, die sich an schwierige Texte und Inhalte wagen und Spaß haben an Geschichten, die nicht einfach nur heruntererzählt werden. Dass das Ende unlogisch ist und man unbefriedigt, teilweise ratlos und auch etwas frustriert zurückbleibt, ist sehr schade, schmälert das Lesevergnügen enorm und wird der Geschichte nicht gerecht.
Steve Sem-Sandberg, Klett-Cotta
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