Alles, was wir sind

- OT: The Secrets We Kept

- aus dem Englischen von Ulrike Seeberger

- Hardcover, 475 Seiten

Alles, was wir sind
Alles, was wir sind
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Almut Oetjen
801001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2019

Bücher als Waffe im Kalten Krieg

Nachdem Boris Pasternak im stalinistischen Russland als politisch kompromittiert galt, beendete er unter widrigen Umständen und in schlechtem Gesundheitszustand seinen weltberühmten Roman „Doktor Schiwago“. Die epische Geschichte einer illegitimen Liebe zwischen dem verheirateten Physiker Doktor Juri Schiwago und seiner Geliebten Lara Antipowa durfte in Russland nicht veröffentlicht werden. Pasternaks kritische Haltung zur Oktoberrevolution und seine subversive Thematisierung des Individuums missfielen den Machthabern. Die Erstveröffentlichung erfolgte 1957 in Italien. Pasternak erhielt 1958 den Literaturnobelpreis, lehnte diesen jedoch ab, als er Opfer einer üblen staatlichen Hetzkampagne wurde. Zwei Jahre später starb er als Geächteter. Während des Kalten Krieges etablierte die CIA ihre Kulturdiplomatie, die eine Verbindung zwischen Freiheit und Kunst herstellte. Sie ließ 365 Exemplare von „Doktor Schiwago“ auf Russisch in New York setzen und in den Niederlanden drucken. Es durfte kein amerikanisches Papier und keine amerikanische Druckerschwärze verwendet werden, damit die Aktion nicht mit der Agency in Verbindung gebracht werden konnte. In den letzten Tagen der Weltausstellung 1958 in Brüssel wurden die Drucke in blauem Einband an sowjetische Besucher verteilt. Die Aktion lief unter dem Codenamen AEDINOSAUR…

Ideales Ausgangsmaterial für „Alles, was wir sind“, das Debüt Lara Prescotts.

Osten vs. Westen

Bei Prescott kommen drei Ich-Erzählerinnen zu Wort: Pasternaks Geliebte Olga Iwinskaja, die einige Zeit in einem Gulag verbrachte, weil sie ihn nicht verraten wollte, war das Vorbild für die Romanfigur Lara; Irina, Stenotypistin im Schreibpool der Agency und Tochter eines ermordeten Regimekritikers, soll verdeckte Missionen durchführen; die erfahrene Agentin Sally soll mit Irina zusammenarbeiten. Hinzu kommt als Gruppenperspektive in klassischer Kommentierungsfunktion der Schreibpool. Den Stenotypistinnen gehören sechs Kapitel, darunter der Prolog und der Epilog. Sie erzählen in der Wir-Form, als kollektives Bewusstsein und insoweit exklusiv, als dass die weiteren Romanfiguren und die Leserinnen nicht eingeschlossen sind. Die Männer sind, bis auf eine Ausnahme, Gegenstand einer in der dritten Person Singular erzählenden Instanz. Während die Frauen von sich sprechen, wird über die Männer, unter denen sich Pasternak befindet, gesprochen. Anders als die recht düster erzählten Kapitel, die im „Osten“ spielen, ist der Ton im „Westen“ leichter.

„Das Wichtigste war, dass wir einen ähnlichen Humor hatten, was hilfreich ist, wenn man sich eine Toilette mit fragwürdiger Spülung teilen muss“

Als die geheimen Missionen Irinas und Sallys zu aufregenden Abenteuern werden, wächst das Interesse der anderen Stenotypistinnen. Sie machen sich Gedanken über die Operationen, spekulieren, tratschen, wären vielleicht gerne mit dabei, aber diskutieren stets diskret. Sie sorgen sich um die beiden Agentinnen, dies aber mit der gebotenen Zurückhaltung. Und obwohl die Frauen den Ereignissen folgen oder diese bestimmen, glauben die Männer, die Fernbedienung der Geschichte in Händen zu halten. Prescott erzeugt damit eine Umkehrung der patriarchalen Narrativbildung. Komisch ist hier die Erfahrung, dass Frauen, die gelernt haben, in öffentlichen Diskursen ihrer Zeit unsichtbar zu sein, beizeiten die besseren Spione sind. Vor allem im Vergleich mit Teddy Helms, der schon eine recht bizarre Vorstellung als Agent liefert. Helms ist eine historische Person und war von 1966-1973 Director of Central Intelligence.

Prescott wurde vorgeworfen, Olgas Biografie, geschrieben von Pasternaks Großnichte Anna, plagiiert zu haben. Wer sich hier aus erster Hand einen Einblick verschaffen will, sei verwiesen auf die deutsche Übersetzung von Anna Pasternaks „Lara - Die wahre Geschichte von Doktor Schiwago“.

Fazit

Lara Prescotts „Alles, was wir sind“ erzählt in einer Mixtur aus Spionagestory, Thriller und historischen Details von der politischen Instrumentalisierung des „Doktor Schiwago“ im Kalten Krieg durch die CIA. Sie reichert diese Erzählung mit glaubwürdigem und sympathischem Personal sowie einer Liebesgeschichte an. Gelegentlich stellt sie die Ergebnisse ihrer Recherchearbeit aus. Inhaltlich ist der Roman ein Vergnügen.

Alles, was wir sind

Lara Prescott, Rütten & Loening

Alles, was wir sind

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