Die Kinderlandverschickung im 2. Weltkrieg – Rettung und Erziehungsform
Die junge Lehrerin Barbara Salzmann begleitet im Sommer 1943 eine Gruppe Mädchen aus ihrer Oberschule in die Kinderlandverschickung nach Usedom. Gemeinsam mit dem Dr. Ritter, dem Rektor der Schule, ist sie verantwortlich für die Kinder, die sich drei Monate lang fernab vom Bombenhagel in Essen in Sicherheit erholen sollen. Zu ihren „Mädeln“ gehören Gisela und deren kleine Schwester Edith. Während Edith, als jüngste der Truppe, eingeschüchtert und kränklich ist und vor allem Angst hat, ist ihre Schwester Gisela nicht auf den Mund gefallen und bildet mit den anderen Mädchen eine verschworene Gemeinschaft, die sich durch alle Höhen und Tiefen trägt. Auf Usedom treffen sie auf Jungs aus dem benachbarten Lager des Zentralhotels. Karl, Bernd, Lupo und die anderen kommen aus Berlin; sie sind zwar noch Kinder, träumen aber vom Heldentum an der Front und können ihren Einsatz im Krieg kaum erwarten.
Barbara, Edith, Gisela und Karl sind die Protagonisten, um die Manuela Küpper ihren atmosphärisch dichten Roman spinnt. Ihre persönlichen Eindrücke und Schicksale tragen eine Geschichte, die anrührt und die Probleme der KLV anschaulich verdeutlicht. Der Leser begleitet die Figuren durch diese schwere Zeit, die dann sogar noch länger dauert als anfangs vorgesehen. Küpper schafft es, die herrschende Stimmung aus Angst, Leid, Hunger, aber auch Hoffnung und nicht unterzukriegender Lebenslust zu vermitteln. Dabei macht gerade Barbara eine enorme Entwicklung durch: von der stillen Begleiterin wird sie zur tatkräftigen Verantwortlichen, die auch vor Kritik an den herrschenden Zuständen nicht zurückschreckt. Überhaupt trugen die Lehrer eine immense Verantwortung, wurden ihnen doch die Kinder nicht nur zur Ausbildung anvertraut, sondern auch deren Überleben im Krieg eingefordert. Zudem kam ihnen die furchtbare Aufgabe zu, den Kindern mitzuteilen, wenn ein Familienangehöriger dem Krieg zum Opfer fiel. Die Kinder dagegen mussten bestenfalls „nur“ monatelang ohne ihre Familien sein. Sie wussten oft nicht, ob diese noch lebten, waren die Väter doch meist im Kriegseinsatz und die Mütter zuhause in Städten, die vor den Bomben der Alliierten nicht sicher waren.
Die Schilderung des Lagerlebens ist geglückt
Die Lager der KLV waren mehr als Schullandheime, in denen Kinder in Sicherheit leben und lernen konnten - sie unterstanden der Reichsjugendführung und waren streng organisiert. Die Lagermannschaftsführer (LaMaFüs) sorgten dafür, dass Fahnenappelle auf der Tagesordnung standen und auch ansonsten das nationalsozialistische Gedankengut verinnerlicht wurde. All das diente der intensiven Indoktrination Heranwachsender ohne die eventuelle Einflussnahme Andersdenkender. Dabei hing die Ausstattung der Lager stark von ihrer Lage, aber auch von der Moral der jeweiligen Leitung ab - denn nicht immer stand das Wohl der Kinder und ihrer Begleiter im Vordergrund.
Ein Buch nicht nur für Geschichtsinteressierte
Das alles müssen auch Barbara und ihre Schützlinge erfahren, die nach dem ersten Bombardement auf Usedom Richtung Osten geschickt werden. Für sie beginnt eine lange Odyssee, die erst nach Jahren enden soll. Die Dramen, die sich auf dieser langen Reise abspielen, die schlechte Ernährung, der Hunger, das Ungeziefer und der Druck der überzeugten Nazis sind zum Greifen nah und man leidet mit den Kindern und ihren Betreuern; genauso wie mit Karl, der dann doch noch zum Militärdienst ausgebildet und an vorderster Verteidigungsfront eingesetzt wird. Die Sinn- und Trostlosigkeit dieser Unternehmungen machen sprachlos und wütend.
Die Autorin berichtet sehr anschaulich von den Verhältnissen in den Lagern. Während auf Usedom alles zum Besten steht, nimmt die Dramatik des Romans mit Beginn der Verlegung Richtung Osten zu. Die ausführlichen Schilderungen des Lagerlebens mit seinen freudigen Ereignissen, seinen kleinen Katastrophen und dem Gekappel zwischen den Kindern, nebst des Liebeskummers der Lehrerin, weichen immer mehr einem Kampf ums Überleben. Was anfangs etwas langatmig war, nimmt jetzt an Fahrt auf und spitzt sich zu, bis es, schon nach Kriegsende, zur Katastrophe kommt.
Fazit
Obwohl auf dem Cover das Verschwinden eines Kindes angekündigt wird, nimmt dieser Handlungsstrang relativ wenig Raum ein. Wer also einen spannungsgeladenen Roman erwartet, wird von „Der Kinderzug“ enttäuscht sein. Der größte Teil des Buches widmet sich dem Alltag während der Kinderlandverschickung, der allerdings nicht weniger faszinierend ist. Das bis dato wenig beachtete Thema ist atmosphärisch dicht geschildert und beleuchtet einen Teil der deutschen Geschichte, der sehr bedrückend, aber auch mahnend sein kann. Leider krankt die Erzählung manchmal an Unwahrscheinlichkeiten, wenn sich z.B. die Kinder trotz der Weitläufigkeit des „Reiches“ immer wieder begegnen. Das hält zwar die Dramatik hoch, aber der Geschichte nimmt es ein bisschen die Glaubwürdigkeit. Dennoch: in ihrem zweiten Roman ist Manuela Küpper wieder eine kurzweilige, anrührende und gut recherchierte Erzählung gelungen, die nicht nur für Geschichtsinteressierte spannend zu lesen ist.
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