Wenn sich etwas verwirklicht, stirbt das Begehren
Kurzgeschichten, lyrische Erzählungen, journalistische Essays, biographische Skizzen… Genre- und stilübergreifend wird berichtet von jungen wie alten Männern und Frauen, von Menschen und Tieren, von Beziehungen und Beziehungsdramen, von Begehren und Entsetzen, von Traum, Wirklichkeit und allem dazwischen. Die Menschen, die diese Geschichten bevölkern, wandeln durch ihr Leben, sie sind auf der Suche, sie wollen alles oder nichts, und ihnen begegnet Gewöhnliches, aber auch ganz Wundersames. Verstörend, fesselnd, verwirrend, erheiternd und berauschend – ein wahnwitziger Trip in menschliche Lichtblicke und Abgründe.
"Jeder Mensch ist eine eigene Welt, jeder Mensch hat seinen eigenen Schlüssel, die der anderen helfen nicht weiter…"
In ihrer Heimat Brasilien wird die vielseitige Schriftstellerin Clarice Lispector geradezu verehrt. Mittlerweile gilt sie als eine der einflussreichsten Vertreterinnen der dortigen Moderne. Dank dieses Bandes, der 40 ihrer Erzählungen vereint (der Folgeband, welcher die Sammlung komplettiert, soll im Herbst 2020 erscheinen), wird sie endlich, Jahrzehnte nach ihrem Tod, auch hierzulande (wieder-) entdeckt. Die Erzählungen sind dabei lose in thematischen Abschnitten organisiert, die mit fortschreitender Seitenzahl immer abgehobener und rätselhafter zu werden scheinen.
Lispectors Schreiben lässt sich keiner Gattung zuordnen – sie entschlüpft allen Versuchen, sie in eine Schublade stecken zu wollen (selbst in den Geschichten, die in dem unter „Ganz hinten in der Schublade“ betitelten Segment abgedruckt sind). In ausschnitthaften Beobachtungen erhellt ihre poetische Prosa scheinbare Alltäglichkeiten auf eine Art und Weise, wie man sie noch nie gesehen hat, und völlig neue und überraschende Empfindungen – in all ihrer paradoxen Widersprüchlichkeit – tun sich auf. Ihre Figuren sind undurchsichtige Gestalten: leidenschaftlich, depressiv, lebenssüchtig, melancholisch, bösartig, ganz normal und doch so viel mehr (und weniger) als das.
"Wir Künstler im großen Geschäft wissen, dass das Kunstwerk uns nicht versteht. Und dass das Leben ein Himmelfahrtskommando ist…"
Ob eine heimliche Affäre, ein Besuch bei der Psychiaterin, ein Treffen junger Liebender, ein Spaziergang durch einen botanischen Garten, ein nächtlicher Einbruch, ein Geburtstag der Großmutter oder ein Huhn auf der Flucht – aus ihren Momentaufnahmen, seien es nun aberwitzige Vorkommnisse oder vermeintlich geradezu langweilige Situationen, macht Lispector verwunschene Orte. Bei ihr werden das brasilianische Hinterland oder der Großstadtdschungel Rios zum Spielplatz der Tiefenpsychologie. Das ist manchmal schmerzhaft, manchmal sogar der blanke Horror, aber oftmals auch auf subtile Art und Weise humorvoll – ihre pointierten und immer ins Schwarze treffenden Worte laden zum Mitdenken, Mitfühlen, freien Assoziieren und Interpretieren ein und gewähren tiefe Einblicke in die (nicht ausschließlich) weibliche Seele. Allerdings sollte man die Lektüre am Besten in kleinen Dosierungen genießen – geballt am Stück ist Lispector eindeutig zu viel des Guten.
Fazit
Clarice Lispectors Erzählungen sind hochtrabend, geheimnisvoll und kryptisch – wer sich davon nicht abschrecken lässt, muss einfach einen Blick riskieren und wird sicher schnell feststellen, dass man sich dem ureigenen Bann dieser Autorin nur schwer entziehen kann! Alles andere als eine leichte Lektüre, aber vielleicht wird so einer der wichtigsten weiblichen Stimmen Lateinamerikas auch in Deutschland die ihr verdiente Anerkennung zuteil.
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