Eine spannende und sehr berührende Geschichte
Nach dem Tod ihres Vaters zieht Nour mit ihrer Mutter und ihren zwei Schwestern zurück nach Homs in Syrien. Doch dort herrscht Krieg. Nachdem ihr Haus von einer Granate zerstört wurde, ist die Familie gezwungen das Land zu verlassen. Es beginnt eine gefährliche Flucht nach Europa. In ihrer Einsamkeit und Verzweiflung findet Nour Trost in der Geschichte von Rawiya, einem jungen Mädchen, das im 12. Jahrhundert ihre Heimat verließ um sich dem Gelehrten Al-Idrisi anzuschließen und, genau wie Nour, vielen Gefahren ausgesetzt war.
Nour muss viele Schicksalsschläge verkraften
Die 12-jährige Nour hängt sehr an ihrem Vater. Er besucht mit ihr Parks und Spielplätze und er erzählt ihr kurze und lange Geschichten, wie die von Rawiya, die ganze zwei Monate von Anfang bis Ende dauert. Doch dann stirbt der Vater und für Nour bricht eine Welt zusammen. Sie zieht sich zurück in ihre Gedanken und Vorstellungen und erlebt die Welt in Farben. Geräusche können grau, blau violett und vieles mehr sein, genauso, wie Düfte oder Orte und Personen. Dann kommt die nächste Veränderung – der Umzug nach Homs. Nour spricht, anders als ihre Mutter und ihre zwei älteren Schwestern, wenig Arabisch und zieht sich noch weiter in ihre Träume zurück. Nach dem Bombardement ihres Stadtviertels und dem abermaligen Verlust von Geborgenheit, kommt für Nour die größte Herausforderung, denn ihre Familie muss fliehen. Der lange und sehr anstrengende Weg nach Westen birgt Gefahren, die ihr junges Leben bedrohen und ihre Familie auseinander reißen.
Joukhadar hat mit Nour eine Protagonistin erschaffen, die stellvertretend für alle Flüchtlinge dieser Welt steht. Ihr Leid, ihre Tränen, ihre Verzweiflung und Angst sind in jedem Satz spürbar. Schnell hat sie den Leser für sich eingenommen, denn man kann gar nicht anders als mitleiden und mithoffen. Aber, Nour hat einen starken Charakter, denn sie meistert auch die schwierigsten Situationen, schafft es selbst dann noch sich tiefgründige Gedanken zu machen, wenn ihre Lage ausweglos erscheint. Ihren Mut und ihre Kraft schöpft sie aus der Geschichte von Ruwiya, die sich auch auf einer gefahrvollen Reise befindet und mit Bedrohungen durch Mensch und Natur fertig werden muss.
Eine Geschichte in der Geschichte
Ruwiya verlässt ihre Mutter um sich mit dem Gelehrten Al-Idrisi auf Forschungsreise zu begeben. Sie wollen für den Normannenkönig in Palermo eine Landkarte des Mittelmeerraumes zu erstellen. Sie kommt durch die Städte und Gegenden, die auch Nour auf ihrer Reise passieren muss. Forschungsreise und Abenteuer stehen Flucht und Gefahr gegenüber und ergänzen sich. Nour schöpft Kraft aus Ruwiyas Fabel und errechnet durch sie die Dauer ihrer Flucht, denn sie weiß, dass die Erzählung zwei Monate dauert. Der Leser lernt die Orte auf zwei Arten kennen. Im 12. Jahrhundert aus der Sicht Ruwiyas und 2011 aus Nours, denn sie erzählt ihren Teil der Geschichte in der Ich-Perspektive. So kann man Teil haben an ihren Gedanken und an ihrer Art die Welt zu sehen, denn die nimmt sie in Farben wahr, die für andere verborgen sind. Immer wieder haben beide Geschichten Berührungspunkte. So zeichnet Nours Mutter auch Landkarten und Ceuta und Cordoba spielen in dem Leben der Mutter eine ebenso große Rolle, wie in Al-Idrisis. Zum Schluss verknüpfen sich die beiden Geschichten und die Fabel von Ruwiya wird zur Familiengeschichte von Nour, die auch zu einer Art Kriegerin wird. Die Vergangenheit bedingt die Gegenwart und hilft Nour und ihrer Familie, die ebenso, wie Ruwiya mit schweren Verlusten fertig werden muss.
Warum ich keine 100° geben konnte
Joukhadar hat mit „Die Karte der zerbrochenen Träume“ einen zutiefst berührenden und ganz in der Tradition arabischer Geschichtenerzähler stehenden Roman geschaffen, der den Leser in den Bann zieht und so bildgewaltig und flüssig geschrieben ist, dass die immerhin mehr als 400 Seiten viel zu schnell gelesen sind. Leider war mir bis zum Schluss unverständlich, warum Nours Mutter unablässig Karten zeichnet und wer diese erwirbt. Ebenso ist es mit rätselhaft, aus welchen Gründen die Familie aus dem sicheren Amerika in das kriegsgeschüttelte Syrien zieht. Aber, wenn immer alles logisch sein sollte, wäre die Erzählung ja nie entstanden – und das wäre sehr schade. Schade ist auch, dass der Originaltitel „The Map of Salt and Stars“ nicht wörtlich übersetzt wurde, denn er hat einen engen Zusammenhang mit dem Inhalt, während Nours Träume nicht zerbrechen, wie es der deutsche Titel impliziert. Doch diese klitzekleinen Unzulänglichkeiten mindern zwar die Gradzahl aber nicht das Lesevergnügen. Erwähnen möchte ich aber auch das wirklich gelungene Cover, das den Inhalt bestens repräsentiert. Auch die Deckblätter der fünf Teile des Buches sind sehr originell gestaltet. Gedichte sind in den Umrissen des Landes geschrieben, das Nour in dem jeweiligen Teil durchquert. Leider gibt es keine Informationen darüber, woher die Gedichte stammen – von der Autorin selbst?
Fazit
Die Karte der zerbrochenen Träume“ ist ein Buch, wie es unsere Zeit braucht. So viele Menschen sind auf der Flucht und riskieren ihr Leben um ein wenig Sicherheit und Ruhe zu finden. Ein Buch das sensibilisiert, Mut macht und dazu auch noch eine wunderbare Geschichte erzählt. Von mir gibt es eine uneingeschränkte Empfehlung!
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