Ruhestörung

  • Penguin
  • Erschienen: Dezember 2019
  • 0

- OT: Disturbing the Peace

- aus dem Englischen von Anette Grube

- TB, 320 Seiten

Ruhestörung
Ruhestörung
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Yannic Niehr
781001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2020

Wie wurde ein netter Werbemensch aus der Mittelschicht verrückt?

Diagnose: Nervenzusammenbruch! Damit hätte der augenscheinlich erfolgreiche New Yorker Mittdreißiger John Wilder nicht gerechnet. Er ist gut in seinem Job als Vertreter von Werbeflächen für Zeitschriftenanzeigen, hat Frau und Kind, darüber hinaus sogar die ein oder andere Affäre – nach außen hin sieht es nicht so aus, als könne er sich beklagen. Doch die Tatsachen lassen sich nicht wegreden, und plötzlich findet er sich in der psychiatrischen Abteilung Bellevue wieder.

So scheint er sich fürs Erste wieder zu fangen, rennt er auch von einem Psychologen zum nächsten. Ganz überraschend verschlägt es ihn mit Hilfe seiner neuen Geliebten Pamela sogar nach Hollywood, wo lange aufgegebene Träume winken, und man ihn lobt für den Mut, seine Leidensgeschichte künstlerisch aufarbeiten zu wollen. Doch ist die Wut in ihm nicht verraucht, sein Alkoholkonsum nimmt eher zu als ab, und er verliert zunehmend die Kontrolle. Tief in seinem Innern, wo Dunkles schwelt, scheint etwas unumkehrbar aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis seine Psyche schlimmer anbrennen wird als je zuvor?   

„Nur durch das Besondere gelangen Sie zum Allgemeinen“

Mit Ruhestörung ist dem (zumindest im deutschsprachigen Raum erst kürzlich wiederentdeckten) Richard Yates das interessante Portrait eines gestörten Mannes gelungen. Schon auf den ersten Seiten teilt Wilder seiner Frau Janice mit, dass er sie und den gemeinsamen Sohn Tommy umbringen werde, solle er in seiner momentanen Verfassung von seiner Geschäftsreise nach Hause zurückkehren. Insgesamt zeigt sich sein Umfeld vorerst allerdings verständnisvoll für sein Verhalten, und der Aufenthalt in Bellevue scheint ihn zu stabilisieren. Es folgen Psychoanalysen, therapeutische Gespräche, Psychopharmaka – lange sieht es gut aus um den Protagonisten, doch nagt etwas Abgründiges tief in ihm, dass sich immer wieder bemerkbar macht und nicht abschütteln lassen will. Bewusst verzichtet Yates darauf, in die Tiefe zu gehen – die genaue Natur seiner Erkrankung ist Wilder selbst so wenig klar wie dem Leser. Erschwert wird der Zugang zur Hauptfigur weiterhin dadurch, dass diese sich offensichtlich nicht helfen lassen will. Wilder betrinkt sich entgegen des Rats seiner Ärzte regelmäßig, sogar dann, wenn er vorgibt, bei AA-Treffen zu sein. Hier soll weder ein Held noch ein Unsympath gezeigt werden, sondern eine innerlich gescheiterte Existenz.

„Wie können Sie etwas verkaufen, was Sie nicht verstehen?“ –„Machen Psychiater das nicht auch so?“

Yates versteht sich also darauf, die schwer fassbare Natur psychischer Erkrankungen stilistisch nachzubilden, und zwar auf eine erfrischend direkte Art und Weise, die ihrer Zeit (die Handlung ist zum Großteil in den frühen 60er Jahren angesetzt) ein wenig voraus ist. John Wilder leidet an Ängsten, einer irrationalen Aggression, einer enormen Enttäuschung und einem Mangel an Selbstwertgefühl – eine brodelnde Mischung, die ihn unaufhaltsam auf den großen Knall zuzusteuern scheint. Es ist kein Zufall, dass all dies vor dem Hintergrund eines sehr positiven Zeitgeistes spielt: die auf den ersten Blick heile Welt und wirtschaftliche Stabilität der USA dieser Ära birgt ein großes Potenzial an verstecktem Druck. Je mehr nach außen hin der perfekte Job, die perfekte Familie, das perfekte Leben als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, desto schwieriger wird es dem Durchschnittsmenschen gemacht, dem gerecht zu werden und den Schein zu wahren. Damit ist der Roman auch heute noch aktuell. 

Im Mitteilteil schlägt die Narrative einige anfangs unerwartete Richtungen ein, die jedoch leider eher von der Wucht der zentralen Themen ablenken, anstatt diese zu stärken. Stellenweise mäandert die Geschichte ein wenig zu sehr vor sich hin. Entschädigt wird der Leser aber durch Yates‘ Art zu schreiben: seine Sätze, denen man die Jahrzehnte, die sie schon auf dem Buckel haben, nicht im geringsten anmerkt, sind immer auf den Punkt und lassen zwischen den Zeilen auch eine gehörige Portion sardonischen Humors durchklingen. Das Ganze mündet schließlich in einem stimmigen, ernüchternden Finale.

Fazit

Richard Yates gilt heute als einer der wichtigsten amerikanischen Autoren der Nachkriegszeit. Ruhestörung ist eine ganz eigensinnige Milieustudie, bei der man sich noch einen Hauch mehr Substanz gewünscht hätte – doch hätten zu viele Erklärungen wohl ihre Kraft geschmälert und von der Finsternis im Kern abgelenkt. Als ganz so schwere Kost, wie man beim ersten Blick auf die Inhaltsangabe meinen könnte, fällt der Roman gar nicht aus – wohl aber etwas speziell. So wird er sicher nicht jedem Leser gefallen, ist aber alleine schon deshalb einen Blick wert, weil Yates sein Handwerk beherrscht.

Ruhestörung

Richard Yates, Penguin

Ruhestörung

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