Die Geflüchteten

  • Heyne
  • Erschienen: Februar 2020
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- OT: The Refugees

- aus dem Englischen von Wolfgang Müller

- TB, 224 Seiten

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Yannic Niehr
761001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2020

Der Krieg ist vorbei. Es hat keinen Sinn, ihn nochmal zu kämpfen

Eine Ghostwriterin muss ihre eigenen Ansichten über Geister hinterfragen, als sie Besuch von ihrem auf der Flucht umgekommenen Bruder erhält; ein junger Flüchtiger, erhält einen gehörigen Kulturschock, als er in seinem neuen Leben bei einem Schwulenpaar unterkommt und ganz neue Seiten an sich selbst entdeckt; eine alternde Dame kommt nicht los von den Narben der Vergangenheit;  Arthur Arellano schließt Freundschaft mit seinem vietnamesischen Organspender, muss aber schließlich eine überraschende Entdeckung machen; Mrs. Khanh sieht sich mit der Demenz ihres Gatten, eines ehemaligen Professors, konfrontiert; eine Generationenkluft lässt lange vergraben geglaubte Konflikte hochkochen, die bis in die Gegenwart hineinwirken; ein junger Mann namens Thomas, der sich um seinen Vater, einen Ex-Soldaten, kümmert, ist gezwungen, sich über vietnamesisch-amerikanische Beziehungen Gedanken zu machen; und zu guter Letzt offenbart eine schwesterliche Zusammenkunft schmerzlich, dass nicht alles Gold ist, was glänzt.

8 Erzählungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, doch eines haben sie alle gemeinsam: den Krieg, die Flucht und das Leben danach…

„Meine amerikanische Jungend war voller Leidensgeschichten, mit denen meine Mutter zum Ausdruck brachte, dass wir nicht hierhergehörten. In einem Land, wo Besitz alles galt, hatten wir nichts als unsere Geschichten“

Angesichts der Zeiten brutaler geopolitischer Auseinandersetzungen, multikultureller Verhandlungen und zunehmender Flüchtlingsströme ist es nicht verwunderlich, dass Viet Thanh Nguyen eine Rückschau wagt und somit dieses Buch entstanden ist: eine Sammlung an Kurzgeschichten, deren Protagonisten aus Vietnam geflohen und in die USA eingewandert sind. Die Sprache ist klar und prosaisch, lässt dem Leser aber sehr viel Raum, sich zwischen den mal direkten, mal poetischen Zeilen zu verlieren und über den Inhalt nachzudenken. Alle Geschichten wirken wie aus einem Guss, obwohl die Figuren und Situationen unterschiedlicher nicht sein könnten. Diese Vielfalt sorgt dafür, dass der Stil mal nachdenklich, mal dramatisch, mal humorvoll daherkommen kann – oftmals wird sogar im Laufe nur einer einzigen Story die gesamte emotionale Palette bedient.

So ist es durchaus witzig, mitanzusehen, wie Liem in Der andere Mann sich in den USA, seiner neuen Heimat, einzufinden und die Sprache zu erlernen versucht, dabei aber so viele Gepflogenheiten nicht versteht und zunächst kaum begreifen kann, dass es sich bei den beiden Männern, die ihn aufnehmen, um ein Paar handelt; schließlich aber bringt eine unerwartete Wendung eine unterschwellige, traurige Wahrheit ins Bewusstsein. Ähnlich komisch beginnt auch die Erzählung der Mrs. Hoa, die in Kriegsjahre eine Ladenbesitzerin, die sich längst in den Vereinigten Staaten heimisch fühlt, um Spenden für antikommunistische Belange anschnorrt; dies allerdings nur, weil Angehörige von ihr in den Wirren des Krieges verschollen sind und sie sich aus alten Denkmustern offensichtlich nicht lösen kann und dabei ein Gegenmodell zu Resignation und Anpassung darstellt. Besonders deutlich werden die scheinbar unüberbrückbaren Missverständnisse zwischen Amerika und Asien in Vaterland, wo Mr. Ly nach der Umsiedlung in eine andere Wirtschaftszone seinen zweiten Satz Kinder nach dem ersten benennt; die Hoffnungen, die sich Phuong macht, als sie ihre unter westlichem Einfluss großgewordene Namensvetterin (ihre Schwester hat allerdings zwischenzeitlich den Namen Vivien angenommen, nach Vivien Leigh) endlich kennenlernen darf, werden allerdings schnell von der Wirklichkeit eingeholt.

„War die Annahme übertrieben, dass die zerstörten amerikanischen Südstaaten und ihr tragisches Selbstverständnis dem geschlagenen Südvietnam und seinen verbitterten Überlebenden mehr als nur flüchtig ähnelten?“

Dies sind nur einige Beispiele der Narrativen, die das Buch bietet. Alle lesen sich kurzweilig, unterhaltsam und doch tiefsinnig. Sie zeigen uns unvertraute Vorstellungen und kulturellen Nachhall mit bunten und berührenden Charakteren. Leider enden sie oft dann, wenn man sich gerade in die Situation eingefühlt hat. Nguyen steckt voller guter Ideen, und er schreibt sich sein Anliegen mit Herzblut von der Seele. Doch hätten sich manche dieser Stories sicherlich zur Novelle oder zum Roman ausbauen lassen, um stärkere Wirkung zu entfalten. So bleibt man nach 8 Ausflügen in direkt oder indirekt von einer Flucht betroffene Weltanschauungen mit dem Wunsch nach mehr zurück. Der thematische rote Faden aber, den heutzutage so viele Mitmenschen teilen, macht das Buch zu einer interessanten und wichtigen Auseinandersetzung mit den Erfahrungen Geflüchteter. Denn so verschieden die Stories sind, verbindet sie alle die Tatsache, dass sie Meditationen darstellen darüber, wie ein solcher Krieg der Kulturen und die Flucht in eine andere Welt über Jahrzehnte nicht nur das Weltgeschehen prägen, sondern auch für Individuen ganz neue Lebenswirklichkeiten schaffen kann.

Fazit

Kurzweilig und emotional lotet Viet Thanh Nguyen in dieser Kurzgeschichtensammlung die Nachwirkungen des Vietnamkrieges in Geschichten aus, welche sich nicht vorrangig mit Leid und Elend befassen, sondern eher ruhig und unaufgeregt mit den Menschen, die davon betroffen sind, waren, oder über Generationen hinweg sein werden. Hierbei schöpft er sein Potenzial zwar nicht ganz aus, dennoch ist das Buch aufgrund seiner klugen und kompetenten Sprache sowie seiner aktuellen Brisanz absolut empfehlenswert!

Die Geflüchteten

Viet Thanh Nguyen, Heyne

Die Geflüchteten

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