Ein politisches und dennoch sehr emotionales Buch
Tatjana Alexejewna ist über neunzig und an Alzheimer erkrankt. Ihr neuer Nachbar ist Alexander, ein junger Mann, der wie sie schon viel Schmerz ertragen musste. Tatjana erzählt ihm ihre Lebensgeschichte, die gleichzeitig die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert ist. Das sich gleichende Leid lässt die Zwei eine ungewöhnliche Freundschaft schließen, die ihnen beiden hilft Frieden zu finden.
„Weil Gott Angst hat vor mir. Zu viele unbequeme Fragen kommen da auf ihn zu“
Tatjana hat das zwingende Bedürfnis ihr Leben zu erzählen, damit es als Zeugnis für die Geschichte Russlands weiter existiert, denn für sie wird es bald vergessen und vergangen sein. In einem Monolog erzählt sie Alexander von ihrer Tätigkeit als Sekretärin im Außenministerium in Moskau während des 2.Weltkrieges, von ihrem Mann und von ihrer kleinen Tochter. Auf ihrem Schreibtisch landen die Anfragen und Listen des internationalen Komitee des Roten Kreuzes aus Genf, die sie ins Russische übersetzen muss. Antworten darf sie nie, denn für Russland sind russische Kriegsgefangene Feiglinge und Kollaborateure, die es zu vergessen oder zu vernichten gilt. Als Tatjana den Namen ihres Mannes auf einer dieser Listen entdeckt, gerät sie in Panik, befürchtet Konsequenzen für sich und die Tochter. In ihrer Angst löscht sie den Namen ihres Mannes und wiederholt einfach den Namen des Gefangenen, der davor in der Liste steht. Dadurch löst sie eine Kettenreaktion aus, die ihr ganzes Leben beeinflusst, ihre Familie auseinander reißt und in ihrer ganzen Tragweite ihr bis zum Lebensende verborgen bleibt. Ihr Leben war nicht nur bewegend, erschreckend und tragisch – sie ging durch die Hölle und konnte erst viele Jahre später wieder zu sich selbst finden. Seine eigene Hölle durchlebte auch Alexander. Der tragische Tod seiner Frau bringt ihm Tatjanas Leid näher. Und, obwohl er am Anfang genervt ist von der aufdringlichen Alten, versteht er, dass es nicht nur um Tatjanas Lebensgeschichte geht, sondern um die Erinnerung und Vergessen einer ganzen Gesellschaft.
„Der Staat tut alles, damit die Menschen die Grausamkeiten des Sowjetregimes vergessen und unsere Aufgabe ist es, das nicht zuzulassen“
Diesen Satz sagte Sasha Filipenko in einem Interview. Die Recherche zu seinem Roman zeigte ihm dann sehr deutlich, dass nicht nur die Sowjets versucht haben, die Geschichte umzuschreiben oder sie in Vergessenheit geraten zu lassen. Während der Regierungszeit Jelzins wurden viele Archive geöffnet, bis dahin geheim gehaltene Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Doch Putin machte das wieder rückgängig. Um die Dokumente der Korrespondenz zwischen dem Roten Kreuz in Genf und der Sowjetregierung einzusehen, musste Filipenko auf die Duplikate in Genf zurückgreifen, die zu seinem Glück darüber hinaus noch mit unzähligen Anmerkungen versehen waren. In Form von zahlreichen Notizen, Aktenvermerken, Telegrammen und Briefen werden diese Dokumente zitiert. Das Ergebnis all dieser Nachforschungen ist Filipenkos erstes in Deutschland erschienenes Buch. Hinter dem spannend und flüssig zu lesenden Roman, steht der Wunsch, exemplarisch an Tatjanas Lebensgeschichte, die Vergangenheit zu erzählen ohne sie zu beschönigen oder sie zu eigenen Zwecken umzuschreiben oder sogar auszulöschen. Dabei spielt das Bild des Kreuzes immer wieder eine Rolle. Das Rote Kreuz in Genf, das aus Metallstangen zusammengeschweißte Kreuz auf einem Friedhof, rote Kreuze an Wohnungstüren, das Kreuz, das jeder zu tragen hat ... Schade ist, dass die deutsche Übersetzung aus dem Originaltitel „Rotes Kreuz“ den Plural gemacht hat, denn der Singular macht wesentlich mehr Sinn!
Fazit:
„Rote Kreuze“ lässt den Leser nicht los. Die Lektüre selbst ist packend, die gut 270 Seiten schnell gelesen. Doch es ist der Nachhall, der anhält. Es ist tatsächlich ein Buch gegen das Vergessen und für das Erinnern, das ich jedem der an Geschichte oder der Dokumentation eines zwar fiktiven, aber außergewöhnlichen Leben interessiert ist, nur empfehlen kann.
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