Eine düstere Reise
Vater und Sohn fahren mit dem Auto – sie machen einen Roadtrip. Es geht in die Vergangenheit des Vaters, in die Gegend seiner Jugend. Auf dem Weg unterhalten sie sich und spielen ein paar einfache Spiele. Der Vater fragt den Jungen ab: „Wie viel ist zwölf mal zwölf?“ Beim Fahren trinkt der Vater Bier und denkt zurück an die Zeit, da er selbst ein Junge war, aber auch an die Zeit, da er mit der Mutter des Jungen zusammenlebte. Er denkt an den Vater, Großvater und Urgroßvater: seine Vorfahren, die sich allesamt das Leben nahmen.
Die Last der Vorgeschichte
Kann sich der Vater von der eigenen Familiengeschichte lossagen? Die Frage steht im Raum und macht aus dem eigentlich netten Ausflug eine zermürbende Angelegenheit. Die Last der eigenen Vorgeschichte liegt wie ein unerträgliches Gewicht auf der Seele des Vaters. Zugleich hat er Grund zur Hoffnung: Er hat schon länger durchgehalten als der eigene Vater. Der hatte sich schon viel früher umgebracht, damals in den eigenen vier Wänden.
Als Soziologe weiß der Vater, wie sehr ein Mensch von seinem Umfeld geprägt wird. Er versteht, dass Familiengeschichte kein Buch ist, das man auf- und zuschlagen kann, wann immer man Lust dazu hat, sondern dass sie in Fleisch und Blut übergeht. Er weiß auch, dass er selbst aus einfachen Verhältnissen kommt und sich deshalb in gehobener Gesellschaft stets unwohl fühlt. Er versteht seine soziale Zugehörigkeit als Rucksack, den er stets mit sich trägt. Er weiß, wie schwer es ist, sich gegen die eigene Herkunft aufzulehnen und ein ganz neues Leben zu erschaffen. Aber er versucht es, für sich selbst, aber vor allem für seinen Sohn.
Immer wieder fragt der Sohn nach dem Großvater, möchte wissen, wie er gestorben ist. Die Antwort kommt mechanisch: „Er war krank.“ Denn der Vater will den Sohn beschützen und die dunkle Familienchronik vor ihm verbergen. Die eigene Last, die er aus dem Wissen um die männlichen Vorfahren ständig erfährt, will er nicht weitergeben an den Sohn. Dieser soll mit einem lebendigen Vater, der für ihn da ist, aufwachsen, und nicht mit Geschichten über Selbstmord, die ihn letztendlich selbst belasten werden, da er sich in dieselbe Reihe einordnen muss. Der Sohn soll den Fluch brechen und frei sein.
Das Innenleben und der äußere Druck
Das Vorhaben, den inneren Kampf eines Suizidgefährdeten darzustellen, ist ungemein schwer und erfordert sehr viel Geschick. Bjergs Ansatz ist spannend, kann aber der großen Anforderung nicht ganz gerecht werden. So sehr auch die Angst und Anspannung des Erzählers erfahrbar werden, so schwierig bleibt der Zugang zum Todestrieb. Der Leser kommt diesem Aufsteiger, der sich in feiner Gesellschaft fehlplatziert fühlt, nah und sympathisiert mit ihm. Auch die Angst vor der Unausweichlichkeit des genetischen Erbes wird spürbar. Aber der eigene Trieb des Vaters, sich vielleicht doch noch das Leben zu nehmen, ist nur schwer zu greifen. So scheint er stets nur gegen äußere Kräfte zu kämpfen, aber nie gegen die eigenen Dämonen, die ihn ins Elend stürzen wollen.
Fazit
Serpentinen lebt von der finsteren Stimmung und der Frage nach Selbstbestimmung im Angesicht einer erdrückenden Familiengeschichte. Es ist aufwühlend und packend - ein Buch voller schwieriger Fragen.
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