Psychologisch interessante Familiengeschichte von Kriegs- und Nachkriegsgeneration
Vorkriegszeit
Der Roman von Stefanie Gregg führt uns von Breslau bis nach München, als ein vom letzten Krieg vorgegebenen Weg der Flucht und Verdrängung. Die Lebenswege von drei Frauen dreier Generationen erzählen von schicksalhaften Begebenheiten, die erahnen lassen, wie leidvoll der Krieg bis in die heutige Zeit wirkt.
Käthe aus guten bürgerlichen Verhältnissen stammend, bricht aus Ihrer unerträglichen Ehe aus, als sie den angehenden Richter Ludwig kennenlernt und sich in ihn verliebt. Sie nimmt damit in Kauf, den gewohnten Komfort und Luxus zu verlassen, um mit Ludwig zusammenleben zu können, zumal auch ein Kind von ihm unterwegs ist. Trotz aller Widrigkeiten gelingt es ihnen, eine bescheidene Existenz mit nunmehr zwei Kindern aufzubauen. Aber es ist die Zeit des Nationalsozialismus und als ein Judenkind von einem Hauptsturmführer zu Tode getreten wird, weigert sich Ludwig dem Druck der Gestapo nachzugeben und den Mörder frei zu sprechen. Die Folge war eine Einberufung und Fronteinsatz.
Der Krieg ist aus
Doch das Kriegsende naht. Käthes Schwester Selma erkennt gerade noch rechtzeitig, dass eine Flucht in den Westen die einzige Option ist, um dem Inferno der sich nähernden Front zu entgehen. Sie verschaffen sich einen Platz im letzten Zug, der von Breslau noch gefahren ist. Die nächsten Wochen bestehen aus einem Überlebenskampf gegen Hunger und Kälte, der unzählige Menschen in diesem Zug zum Opfer gefallen sind.
Die Schwestern Käthe und Selma haben es geschafft, aber der Preis war zu hoch. Sie haben sich den begleitenden Volkssturmmännern sexuell ergeben müssen, um Platz und manchmal etwas zu essen zu bekommen. Der weitere Weg der Flucht, über eine katastrophale Unterkunft auf einem Bauernhof und der erniedrigenden Erfahrung, als Flüchtlinge weniger geachtet zu werden, trug nicht dazu bei, die Zukunft hoffnungsvoller betrachten zu können. Käthe versinkt in eine Lethargie aufgrund der traumatischen Ereignisse, die sie in ihrem weiteren Leben nicht mehr verlassen sollte.
Während der Flucht, als die ersten Anzeichen der seelischen Verfassung von Käthe sichtbar wurden, hat ihre Tochter Ana die lebenswichtigen Entscheidungen getroffen und Verantwortung übernommen. Sie haben dadurch überlebt, aber Ana hatte nicht mehr den Mut für ihr eigenes Glück. Die Verantwortung, die sie stellvertretend für die Mutter übernehmen musste, hat ihr eine Last auferlegt, deren Auswirkungen wieder ihre Tochter erfahren musste.
Das Trauma wird weitergegeben
Das Trauma der Käthe aus der Kriegserfahrung hat in ihrer Tochter und wiederum in deren Tochter seine Fortsetzung gefunden. Die ablehnende Haltung der Enkelin, das Kind ihres Geliebten aus einer unehelichen Beziehung, großzuziehen, der mit einer anderen Frau verheiratet ist, wird mit dem distanziertem Verhalten von Großmutter und Mutter begründet und greift psychologisch gesehen, zu kurz. Betrachten wir die Beziehungsstränge der Tochter und der Enkelin lässt sich diese angeblich fehlende Kindersehnsucht auch an anderen Problemfeldern festmachen.
„Doch dass sie selbst nie diesen unbändigen Kinderwunsch empfunden hatte, lag nicht an Robert. Es lag an dem Gefühl, nie von einer Mutter geliebt worden zu sein, und der Furcht, nie wie eine Mutter lieben zu können.“
Die Bindungsunfähigkeit ihres Geliebten und dessen Verlustängste könnten mit viel Phantasie thematisch ein neues Buch ergeben, ohne die Dreifrauenthematik des Romans zu streifen.
Die ganze Wahrheit
Die Enkel der Kriegsgeneration haben in der Regel nie richtig erfahren können, was mit Großeltern und Eltern in den schlimmen Jahren passiert ist. Es gab Andeutungen, bruchstückhafte Erinnerungen, die manchmal aufgetaucht sind, wenn sie schwach wurden. Oder die Enkel hatten das Glück ein Tagebuch zu finden. Die Enkel finden im Nebel nur schwer Antworten auf ihre Fragen. Die Enkelin in diesem Roman hatte das Glück, die Wahrheit auf einer Reise mit ihrer Mutter in die Vergangenheit zu erfahren. Sie führt dazu, dass sie nun eine andere Entscheidung treffen kann.
Die ständig wechselnden Zeitebenen, die mit der Vorkriegszeit beginnend den Bogen bis in die heutige Zeit spannen, halten den Leser auf Spannung und beleben die Handlungsverläufe. Dabei werden die Reaktionen der drei Frauen in ihren Lebenssituationen deutlich und verständlich. Der Roman ist aus der Perspektive eines neutralen Beobachters geschrieben. Die beschriebenen Konversationen sind oft emotional geprägt und nur unter den Bedingungen der enorm belasteten Situationen nach zu vollziehen.
Die Autorin, 1970 in Erlangen geboren, hat nach Studienabschluss promoviert und nach ihrer Tätigkeit als Unternehmensberaterin bzw. Publizistin von Fachbüchern angefangen, Romane, Kurzgeschichten und Kriminalromane zu schreiben. Der vorliegende Roman ist, ohne autobiografisch zu sein, ein Ergebnis ihrer eigenen Familiengeschichte. Deshalb kann er auch so berührend wahrgenommen werden. Die Darstellung der psychologisch interessanten Entwicklung der Frauenfiguren entbehrt nicht der Tragik in dieser Geschichte, die erschüttert und nachdenklich macht.
Fazit:
Der Roman erzählt uns eine lebendige und wahrhaftige Familiengeschichte im Kontext historischer Ereignisse des letzten Krieges. Wen beides interessiert, für den ist es vor allem ein gutes Buch, spannend erzählt und genug Stoff bietend, um in der eigenen Familie ein ernstes Gespräch zu führen.
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