Was man alles aus ‘nem Schwein machen kann
Samstag, 5. Dezember 1992 im sächsischen Braunkohlerevier: Die alten Schlegels sind die letzten Bewohner von Muckau. Der Ort soll den Baggerungetümen des Tagebaus weichen. Heute wird ihre letzte Sau geschlachtet, bevor sie ihren Hof verlassen und in das neue Heim umsiedeln werden. Noch einmal kommen die drei Generationen der Familie zusammen, um diesen besonderen Tag gemeinsam zu begehen - doch es wird viel mehr zerlegt als nur die letzte Sau…
Alles kommt anders als gedacht
Eigentlich war der Tag von Albrecht und Hertha geplant, wie jeder andere Schlachttag auf dem Hof: Der Metzger kommt, verrichtet sein Werk und die ganze Familie hilft, bis beim Verspeisen der frischen Blutwürste und der heißen Wurstsuppe der Tag ausklingt. Doch am 5.12.1992 ist alles anders: Statt eines Metzgers kommt eine Metzgerin, die nicht nur ihr Handwerk versteht, sondern alle sofort im Griff hat. Sie will „das Schlachten nicht über, sondern auf die Bühne bringen“. Dabei kommt besonders Enkelin Sabine in den Genuss einer unkonventionell gebrauchten Blutwurst.
Während des Tages schweifen die Gedanken aller immer wieder ab und landen zwangsläufig bei der bevorstehenden Aufgabe des Hofes und dem Abschied von dem Dorf, in dem das Ehepaar Schlegel mit ihren drei Töchtern die DDR hat kommen und gehen sehen. In einer sehr ausdrucksstarken Sprache vermittelt uns der Autor die Ängste und Hoffnungen, aber auch das Misstrauen und die sehr eigennützigen Absichten einiger Familienangehöriger. Sogar Humor blitzt stellenweise auf, wenn z.B. Wessi Lukas sich auf verlorenem Posten unter lauter Ossis fühlt oder Enkel René andere immer nur in der dritten Person Singular anredet und sich als (ewiger) Student der Philosophie unglaublich schlau vorkommt. Der normale Schlachttag wird zur Abrechnung mit der eigenen sowie der Vergangenheit der DDR.
Nichts für Vegetarier
Die letzte Sau war 2009 das Debüt des aus dem sächsischen Borna stammenden Patrick Hofmann, für das er 2010 den Robert-Walser-Preis erhielt. 2020 liegt nun diese Taschenbuchausgabe des Penguin Verlages vor. Hofmann beschreibt darin das Schlachten und Verarbeiten der Sau in wirklich allen Einzelheiten. Das ist eindeutig nichts für zimperliche Gemüter und schon gar nichts für Vegetarier! Wer nicht mitlesen will, wie ein Kopf gespalten, Borsten abgefackelt, Knochen gebrochen, Blut in Eimer gegossen sowie Klauen abgezogen und durch die Luft geschleudert werden, der sollte dieses Buch meiden. So gut es ansonsten auch ist – der martialische Schlachtvorgang nimmt einen großen Teil der Geschichte ein.
Doch hier wird nicht nur die bedauernswerte Sau zerlegt! Mit jedem Schritt wird die Schlachtung mehr zum Synonym für den Zustand der Familie und der untergegangenen DDR, die nun am westdeutschen Tropf hängt und deren Betriebe von der Treuhand verwurstet werden. Neben der Arbeit sinniert Opa über den Krieg, Oma liebäugelt mit Hitler, die älteste Tochter outet sich als ehemaliges Stasi-Mitglied - alle lassen die DDR noch einmal auferstehen, und der Braunkohletagebau ist natürlich auch immer wieder Thema. Diese geschichtlichen und philosophischen Exkurse sind interessant, aber oft zu ausführlich. Das Lesen wird streckenweise sehr zäh, manchmal sogar langweilig. Das nimmt der ansonsten erstklassig erzählten Geschichte viel Schwung und drängt die in anderen Teilen greifbare Atmosphäre des Zerfalls und des Untergangs in den Hintergrund. Der Leser sollte sich auf viel Symbolismus und Doppeldeutigkeiten einlassen, denn die letzte Sau steht nicht nur im Stall, die „Reise nach Jerusalem“ ist mehr als ein Spiel und die Metzgerin mehr als die Schlachterin des Schweins.
Fazit
Die letzte Sau ist ein originelles Buch, das gleichzeitig anspruchsvoll und humoristisch ist, dem Leser aber in den langen Ausschweifungen Geduld und Durchhaltevermögen abverlangt. Dafür wird er am Ende mit einer gelungenen Verbindung von Sauschlachtung und Familiengeschichte belohnt.
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