Wie man zu mehr 'Philautia' findet
Seit ihr Mann, der berühmte Akademiker Dr. Leo Carmichael, nicht mehr an ihrer Seite ist, bewohnt die 79-jährige Millicent – ihres Zeichens studierte Altphilologin – das einst gemeinsame Haus in London allein. Das einzige, was ihr Gesellschaft leistet – abgesehen von einem regelmäßigen Gläschen Sherry –, ist die Reue: Sie blickt auf ein Leben voller Narben, Fehltritte und verpasster Gelegenheiten zurück. Nur gelegentliche E-Mails an ihre Kinder versüßen ihr den Tag und vertreiben kurz die übermächtigen Gefühle von Melancholie und Einsamkeit; doch Sohn Alistair lebt mit seiner Frau und Enkelkind Arthur in Australien, das Verhältnis zu Tochter Melanie ist seit einem heftigen Streit erkaltet, und viel zu berichten gibt es ohnehin selten. Auch wenn es das Letzte ist, was Millicent je wollte: Langsam aber sicher scheint sie zu einer verbitterten alten Frau zu verkrusten.
Bis ein Tag im Park alles verändert: Durch Zufall lernt Millicent die lebenslustige Innenausstatterin Sylvie und deren etwas abgedrehte Bekannte, die irischstämmige, zu politischen Tiraden neigende Journalistin Angela kennen. Millicent lässt sich von Angela breitschlagen, auf die Hündin einer Freundin, Felicity, aufzupassen, die alle Hände voll damit zu tun hat, von ihrem gewalttätigen Partner loszukommen. So wird Millicent unverhofft zur Hundesitterin („vielleicht für ein paar Monate, vielleicht für ein Jahr oder länger“) – und Vierbeiner Bobby soll nicht das einzige bleiben, was das Leben der betagten Dame tüchtig durcheinanderwirbelt.
Plötzlich darf Millicent – oder Milly, wie ihre neuen Bekanntschaften sie bald nennen – auf Angelas kleinen Sohn Otis aufpassen, mit Sylvie und Angela Wein trinken, wird zu Partys eingeladen und schließt neue, unerwartete Freundschaften mit anderen Hundebesitzern. Eine Veränderung nach der anderen stiehlt sich in Millys Leben – und damit auch wieder mehr Wärme in ihr Herz. Doch als Sylvie ihr anbietet, ihren Dachboden auszumisten und das Haus etwas aufzuhübschen, muss Milly auch ihrer eigenen Vergangenheit ins Auge blicken…
„Ich hatte einen Großteil meines Lebens damit verbracht, die Dinge, die ich gern sagen wollte, nicht zu sagen“
Mit Sterne bei Tag (ein etwas nichtssagender deutscher Titel; das Original lautet Saving Missy, und auch die Bedeutung dieses alternativen Kosenamens wird im Laufe des Buches erklärt) hat Beth Morrey einen klassischen Wohlfühlroman geschrieben, der die Kraft der Offenheit und der Freundschaft zelebriert. Frei von erzählerischen Klischees ist das natürlich nicht: Die ein oder andere melodramatische Wendung hat man schon oft gelesen, so mancher Kniff wirkt arg gezwungen, und auch die Figurenentwicklungen richten sich gelegentlich eher nach den Vorgaben des Plots anstatt organisch zu wirken. So sind sie zunächst etwas eindimensional geraten und nicht immer greifbar.
Die Geschichte ist bewusst eher episodisch angelegt und schildert verschiedene Szenen - Aufs und Abs aus gut einem Jahr im Leben von Milly, in dem plötzlich alles anders wird als zuvor. Immer wieder wünscht man sich, dass gewisse Erzählstränge etwas stringenter ausgearbeitet werden. Ausgeglichen wird dies aber durch den unterhaltsamen, flotten Lesefluss und den charmanten Witz, der auch in der Übersetzung Simone Jakobs durchscheint. Trotz ein paar etwas holpriger und unbeholfener Passagen zu Beginn genügt das letztendlich den Ansprüchen, die man an ein Buch dieser Art stellen kann, vollkommen. Etwa ab der Hälfte wird man mit dem Roman warm, und am Ende laufen alle roten Fäden doch noch recht überzeugend zusammen.
„Manchmal braucht man mehr als nett“
Der gelungene Aufbau der Handlung entfaltet sich nämlich nur allmählich: Die Szenen in der Gegenwart wechseln sich ab mit Erinnerungen aus Millys Vergangenheit, die ihr Leben nach und nach mehr beleuchten. So erfahren wir schließlich die Hintergründe ihres gespannten Verhältnisses zu Tochter Mel, erleben das Kennenlernen ihres späteren Ehemanns in Cambridge, und werden auch in noch überraschend traurige Erlebnisse eingeweiht. Sehr einfühlsam verdeutlicht Morrey, dass Millicent eine Frau ist, die ihre Chance auf eine eigene akademische Karriere hinter ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter hintenangestellt hat und dass sich hinter der etwas knurrigen Fassade eine sehr intelligente, verletzliche, aber auch warmherzige Person verbirgt, die lernen darf, auch mal loszulassen, ihren Oikos (den Kreis ihrer „Wahlfamilie“) zu erweitern und sich wieder dem zu öffnen, was das Leben ihr gerade bietet – im Schlechten wie im Guten.
Fazit
Sterne bei Tag ist kein literarisches Highlight, kann sich aber durch Beth Morreys Humor und Wärme auch gegenüber anderen Vertretern des Genres hervorheben. Liest sich das Buch auch nicht immer rund, hält es einen dennoch durchgehend bei der Stange, geht mit einigen Nuancen in die Tiefe und lässt einem – wenn auch nicht durchgehend – das Herz aufgehen, so wie es mit Milly geschieht. Eine alles in allem gelungene Herbstlektüre über Versöhnung, Selbstbestimmung, Freundschaft und das Leben!
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