Selbsttherapie im Greyhound-Bus
Gehetzt, durch den Wind, mit blutigen Kratzern im Gesicht – der etwas neben sich stehende Herr am Busbahnhof mitten in New York macht keinen allzu guten Eindruck. Wer könnte glauben, dass es sich dabei um Barry Cohen handelt, stinkreicher Hedgefonds-Manager mit der scheinbar perfekten Frau, dem scheinbar perfekten Sohn, dem scheinbar perfekten Appartement in einem gläsernen Wolkenkratzer-Palast hoch über Midtown Manhattan, kurz: dem scheinbar perfekten Leben? Was ist nur geschehen?
Barry hat Dreck am Stecken, hatte Geschäfte am Laufen, die nicht durch und durch koscher waren; nun ist die Börsenaufsicht hinter ihm her. Seine Frau Seema, die eine eigene juristische Karriere hätte haben können, ist mit ihm und ihrem Leben unzufrieden. Sein Sohn Shiva ist Autist am äußeren Ende des Spektrums. Nachdem Shiva (zu dem Barry einfach keine Beziehung aufbauen kann) auf den Versuch einer Umarmung mit einem erneuten Tobsuchtsanfall reagiert, kochen eine Menge Emotionen hoch: Seema und Kindermädchen Novie wehren sich mit Händen und Füßen. Da brennt bei Barry irgendeine Sicherung durch: Kurzerhand packt er seine geliebte Uhrensammlung ein und setzt sich in den nächsten Greyhound raus aus New York. Er will seine Collegeliebe Layla wiedersehen, ausbrechen, sich neu (er)finden. Es beginnt ein Trip durch die USA, der Barry und Seema dazu veranlasst, einiges in neuem Licht zu betrachten …
„This Side of Capital“
Willkommen in Lake Success ist ein Familiendrama, ein Beziehungspsychogramm und vor allem ein moderner Gesellschaftsroman. Gary Shteyngart hat eine wahnwitzige Momentaufnahme des Amerikas am Vorabend der Trump-Ära geschaffen. Auf einen allzu sympathischen Protagonisten muss man allerdings leider verzichten, denn Barry Cohen (wie schon dessen Wohnungslage symbolisiert) lebt vollkommen abgehoben von den Problemen und Sorgen des Durchschnittsmenschen und begegnet dem Land jenseits der Grenzen seiner eigenen Comfort Zone oftmals blauäugig. Es fällt zunächst schwer, zu erkennen, was ihn überhaupt dermaßen umtreibt, und man kommt zu dem Schluss, dass es allein die Tatsache sein kann, dass die Dinge nicht so laufen, wie er es sich vorgestellt hat. Dabei ist der millionenschwere Tycoon es doch schon so lange gewohnt gewesen, seinen Willen durchzusetzen. Dass er jetzt einen auf Unterwegs machen möchte, obwohl er von einem belesenen, alternativen Beatnik kaum weiter entfernt sein könnte, erscheint einem beim Lesen anfangs absurd.
Bei aller Kritik am amerikanischen Wirtschaftssystem und außer Kontrolle geratenem Kapitalismus versäumt es Shteyngart aber nicht, seine Charaktere vielschichtig aufzubauen und ihnen im Laufe der Handlung ungeahnte Hintergründe und Facetten zu verleihen. Am Ende erwärmt man sich dann doch für Barry – sei es nun wegen seiner Art oder trotz dieser. Und weil er es nicht von Anfang an so leicht hatte. Und weil er seinem Sohn vielleicht ähnlicher ist, als er wahrhaben will. Und weil er sich am Ende zumindest ehrlich um Veränderung bemüht, ob sie nun im Bereich des Möglichen ist oder nicht. Sehr geschickt gelingt es Shteyngart auch, Shiva zum emotionalen Dreh- und Angelpunkt nicht nur des Lebens seines nicht immer liebenswerten Figurenpersonals, sondern auch der Story an sich zu machen, und das auf glaubhafte und respektvolle Art und Weise. Der Schluss gerät anders als erwartet, dabei jedoch überraschend berührend und aufrichtig.
„So war jetzt das Land. Inselgruppen von Normalität inmitten von trockener, wütender Hitze“
Der Fluss der Erzählung ist hingegen eher sperrig. Man wechselt beim Lesen zwischen den Perspektiven von Barrys Eskapaden und den Neuerungen im Leben der zurückgelassenen Kleinfamilie hin und her, und der episodenhafte Charakter hält einen nicht durchgehend bei der Stange. Womit Willkommen in Lake Success überzeugt, ist Gary Shteyngarts Stil, der hochliterarisch und pointiert sowohl lakonisch-humorvoll als auch vernichtend-melancholisch daherkommt. Mit verschmitzter Abgründigkeit und Raffinesse fächert der Autor ein Panorama der amerikanischen Gesellschaft auf und lässt dabei an keiner vermeintlich absoluten Gewissheit ein gutes Haar; alles und jeder wird reflektiert. So zeigt sich die wachsende Kluft in einem Land der Extreme: zwischen Arm und Reich, Demokraten und Republikanern, Jung und Alt, Establishment und Rebellion, Privilegien und Unterdrückung, dem „American Dream“ und dessen unvermeidbarem Scheitern. Das ist oft unbequem und verwirrend, aber es sind ja auch unbequeme und verwirrende Zeiten. Und selten liest sich etwas Unbequemes und Verwirrendes derart unterhaltsam!
Fazit
Manchmal ist scheinbar Widersprüchliches gar nicht so unvereinbar, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Manchmal muss man den Anstoß zu Veränderungen liefern, in der Hoffnung, dass das „Danach“ besser ist als das „Davor“. Und manchmal muss man sich wohl einfach in einen Bus setzen und quer durch die USA tingeln. Willkommen in Lake Success ist nicht immer rund, bietet aber ein sprachlich anspruchsvolles und lesenswertes Prisma der in scheinbar ständigem Umbruch begriffenen Vereinigten Staaten.
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