Robinsons Tochter
- Hanser Berlin
- Erschienen: August 2020
- 1
- OT: Crusoe's Daughter
- aus dem Englischen von Isabel Bogdan
- HC, 320 Seiten
Jeder ist eine Insel
Die 1928 in North-Yorkshire geborene Jane Gardam veröffentlichte ihr erstes Buch mit 43 Jahren und wurde in Deutschland auch erst relativ spät entdeckt. Nach dem Erfolg ihrer Trilogie rund um „Old Filth“ werden nun nach und nach auch ihre anderen Romane herausgebracht - so auch Robinsons Tochter, der bereits 1985 im englischen Original erschien.
Das Leben der Polly Flint
Mit sechs Jahren kommt Polly 1904 nach North-Yorkshire in das „Gelbe Haus“ ihrer Tanten. Dort wächst sie geliebt und behütet, aber weltfremd auf. Ihre Tanten Mary und Frances sind sehr gottesfürchtig, wie es sich für Töchter eines Erzdiakons ziemt, doch auf ein kleines Mädchen sind sie nicht vorbereitet. Polly wird von dem Hausdrachen Mrs. Woods unterrichtet, die in ihrer Strenggläubigkeit noch extremer ist als die beiden Tanten. Doch Polly lernt Deutsch und Französisch und stillt ihren Durst auf Literatur in der umfangreichen Bibliothek des Hauses. Ihr Lieblingsbuch ist Robinson Crusoe von Daniel Defoe, das sie manchmal sogar mehrmals im Jahr liest und das eine Art Kompass für ihr Leben wird. Denn Polly fühlt sich genauso allein gelassen wie Robinson, obwohl sie von Menschen umgeben ist.
Der Leser begleitet Polly durch ihr ganzes Leben bis ins hohe Alter: Er durchlebt alle Höhen und Tiefen, bangt mit ihr im 1. Weltkrieg um die Soldaten, erlebt, wie sie sich verliert, wieder fängt und im 2. Weltkrieg zwei jüdische Mädchen aus Deutschland bei sich aufnimmt. Dabei sind das „Gelbe Haus“ und Robinson Crusoe die zwei immer währenden Konstanten im Leben der Polly Flint.
Die Protagonistin erzählt selbst
Jane Gardam lässt Polly Flint als Ich-Erzählerin auftreten. Dadurch erhält der Leser einen tiefen Einblick in ihre Gefühlswelt, die geprägt ist von der Religiosität im „Gelben Haus“. Und dennoch schafft es Polly den Leser immer wieder zu verwundern, indem sie so gar nicht angepasst reagiert: Sie verweigert die Konfirmation, pflegt die ungeliebte, altgewordene Mrs. Wood und macht sich Gedanken über ihre Familie, die nicht immer so sittsam gewesen zu sein scheint, wie sie es hätte sein sollen. Obwohl der Leser Polly sehr nahe kommt, wird stets eine Distanz gewahrt, die auch bei den anderen Figuren zu beobachten ist. Gardam beschreibt sie durchweg treffend und genau, trotzdem wird man nicht endgültig warm mit ihnen; immer wieder verwundern sie durch untypische Verhaltensweisen oder völlig überzogene Szenen. Der Leser bleibt so immer nur Beobachter, kann dadurch relativ emotionslos dem Leben von Polly folgen und ihr Tun bewerten. Dennoch fesselt die Geschichte, auch wenn es manchmal extrem surreal wird - aber das kennt man ja von Jane Gardam schon.
Robinson Crusoe als Lebenskompass
Für Polly ist Robinson Crusoe mehr als ein Buch: Sie identifiziert sich mit dem Schiffbrüchigen, zieht Kraft aus seiner Art, mit der Tragödie umzugehen und analysiert jede Zeile in einem ihrer Aufsätze, die der Übersetzung des Werkes in die deutsche und französische Sprache folgen. In ihrer Umgebung fühlt sich Polly zwar geborgen und geliebt, aber trotzdem immer allein. Wie auf einer unbekannten Insel im Meer lebt sie ihr isoliertes Leben. Sie verliebt sich und wird abgewiesen; sie könnte in eine Familie aufgenommen werden und flieht; sie zieht sich völlig zurück und droht, an sich selbst zu scheitern – und immer ist Robinson bei ihr. „Du warst mein Brot. Du bist mein Brot“, sagt sie in ihrem letzten imaginären Dialog mit ihm. Polly brauchte niemanden mehr als ihn, um auf ihrer Insel zu überleben, und gleichzeitig zieht sie Weisheiten aus diesem fiktiven Leben, die ihr reales bereichern und gleichzeitig erschließen.
„Er ist nicht verrückt. Er ist tapfer. Er ist wunderbar. Er ist so, wie Frauen fast immer sein müssen: auf einer Insel. Festgesetzt. Eingesperrt. Die einzige Möglichkeit zu überleben ist, zu sagen, dass es Gottes Wille ist.“
Aber auch alle anderen Figuren leben in ihrem Inneren isoliert, obwohl sie äußerlich immer in Gesellschaft sind: Die aufgedonnerte Lady, die sich mit Künstlern umgibt; der reiche Erbe, der an seinen Gefühlen scheitert; die Industriellengattin, die als Jüdin von der Gesellschaft gemieden wird; die Tanten, die nur Gott zum Freund haben und an der Realität zu Grunde gehen; und nicht zuletzt die Großeltern – der Erzdiakon, der nur Gott und seine Steine liebt und seine Frau, die vor Einsamkeit andere Wege geht. Aber sie alle haben eben nicht Robison Crusoe zur Seite wie Polly, die in ihrem Leben immer auf der Insel der Einsamen war und dennoch ihre Art von Glück gefunden hat.
Fazit
Mit Robinsons Tochter hat Jane Gardam eine Lebensgeschichte geschrieben, die nie langweilig zu lesen ist. Sie ist ausdrucksstark, mit gut eingesetzter Ironie und vielen surrealen Momenten gespickt. Gleichzeitig verlangt sie vom Leser, immer zwischen den Zeilen zu lesen, um Wichtiges, aber nicht Ausgesprochenes nicht zu verpassen. Wer gerne Familienromane liest, sich aber gleichzeitig nicht in die Abgründe der anspruchslos geschriebenen Trivialliteratur begeben will, ist bei Jane Gardam gut aufgehoben.
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