Ich bleibe hier

  • Diogenes
  • Erschienen: Juni 2020
  • 1

- OT: Resto qui

- aus dem Italienischen von Maja Pflug

- HC, 288 Seiten

Ich bleibe hier
Ich bleibe hier
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Carola Krauße-Reim
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Belletristik-Couch Rezension vonJul 2020

Eine ebenso emotionale wie fesselnde Geschichte

Als Marco Balzano das erste Mal in Graun im Vinschgau am Rande des Reschensees steht, ist ihm beim Anblick des aus dem Wasser herausragenden Kirchturmes klar, dass „die Geschichte dieser Gegend und des Staudamms sich dafür eignet, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln...“ Herausgekommen ist das vorliegende Buch, das vom Leid der Südtiroler Familie  Hauser während der faschistischen Diktatur und des 2. Weltkrieges erzählt…

Trina schreibt einen langen Brief

Trina lebt in Graun im Vinschgau. In der Ich-Perspektive schreibt sie einen langen Brief an ihre Tochter Marica, die sie schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat und die sie schmerzlich vermisst. Ihre autobiographischen Schilderungen beginnen nach dem 1. Weltkrieg: Südtirol leidet unter der Assimilierungspolitik  und dem Italisierungsprogramm der Regierung. Alles Nicht-Italienische soll ausgemerzt werden: die deutsche Sprache, das Brauchtum, die Trachten, sogar die deutschen Familien- und Ortsnamen. In dieser Zeit legt Trina ihr Examen zur Lehrerin ab; doch sie darf als Südtirolerin nicht unterrichten. Hier wird sie zum ersten Mal mit dem menschenverachtenden Faschismus konfrontiert, der ihr Leben genauso beeinflusst wie die darauf folgende Diktatur Mussolinis und die Grausamkeit des 2. Weltkrieges, der sie zwingt, sich lange Zeit unter lebensbedrohlichen Umständen in unwirtlichen Höhen zu verstecken. Wir begleiten Trina über viele Jahre hinweg, lesen, wie sie heiratet, eine Familie gründet und sich der Frage stellen muss, ob sie als Optantin mit dieser ihre Heimat verlassen sollte. Wir sind dabei, wenn sie beschließt, sich nicht kleinkriegen zu lassen, und dennoch manchmal fast am Ende ist. Sie schließt den Brief mit der Schilderung ihres Lebens als alte Frau in Neu-Graun - ihrem Leben, das noch immer vom Verlust des Heimatdorfes und ihrer Lieben geprägt ist und das nur „den merkwürdigen Anschein von Normalität“ hat. Dennoch macht die Geschichte auch Mut, denn „vorwärts gehen, wie Mutter zu sagen pflegte, das ist die einzige Richtung, die erlaubt ist.“

Starke Charaktere tragen die Geschichte

Durch die Ich-Perspektive taucht der Leser tief ein in den Charakter der Schreiberin, die zwar nüchtern und merkwürdig distanziert ihr Leben schildert, aber dennoch versteht, so viele Emotionen zu transportieren, dass ihre Geschichte den Leser sehr berührt und man manchmal eine Träne nicht mehr verdrücken kann. Auch die anderen Personen werden durch ihren Bericht lebendig. Trina und ihre Familie sind der Mittelpunkt, durch sie erlebt man die Auswirkungen der Südtiroler Geschichte hautnah. Balzano hat sich wunderbar darauf verstanden, diese Menschen mit wenigen Sätzen zu beschreiben. Ihre Charaktere können stellvertretend für die landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft der Südtiroler in diesen Zeiten gesehen werden, sie sind aber dennoch Individuen, die sich entweder fatalistisch in ihr Schicksal ergeben oder mit ihren beschränkten Mittel versuchen, ihre Würde und ihr Hab und Gut zu bewahren. Obwohl man weiß, dass der Kampf gegen den Staudamm erfolglos sein wird, hofft und bangt man dadurch mit den Bewohnern Grauns. Ihr Entsetzen, als klar wird, dass sie weichen müssen, ihr Schmerz, als ihre Höfe gesprengt werden und ihre Lebensgrundlage vernichtet ist, das alles so greifbar, dass es noch lange nach Beendigung der Lektüre beschäftigt.

Sprache als Identitätsmerkmal

Immer wieder greift Balzano das Italisierungsprogramm auf, mit dem die faschistische italienische Regierung versuchte, die Identität der Südtiroler zu zerstören. Die Sprache spielte hier eine herausragende Rolle: Sie diente nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern als Zeichen der Macht. Die deutsche Sprache musste ausgemerzt werden, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auf allen Ebenen; sie war schlichtweg unter Strafandrohung verboten. Die italienische Sprache wurde der Bevölkerung hingegen aufgezwungen und damit zum Druckmittel, denn nur die wenigsten Südtiroler beherrschten das Italienische auch nur ansatzweise. Balzano verdeutlicht die zentrale Bedeutung der Sprache für das Miteinander der Menschheit: Wer nicht kommunizieren kann, gerät schnell ins Abseits, kann seine Rechte nicht mehr einfordern, verliert den Zugang zur Gesellschaft und damit vielleicht sogar seine Menschenwürde. Sprache ist ein wichtiges Identitätsmerkmal, das eine Gruppenzugehörigkeit schafft und durch ihr Verbot diese Gruppe in ihrer Gänze zerschlagen kann.

Fazit

Ich bleibe hier ist eine sehr emotionale Familiengeschichte mit historischen Hintergrund. Balzano versteht es exzellent, den Leser an das Geschehen rund um die Familie Hauser im Laufe der Zeit zu bannen. Ich selbst sehe den Reschensee jetzt mit ganz anderen Augen und werde bei meinem nächsten Besuch ganz bestimmt die Hinweistafeln zum untergegangenen Ort Graun lesen und an die denken, die ihr Zuhause dem Wasser opfern mussten.

Ich bleibe hier

Marco Balzano, Diogenes

Ich bleibe hier

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