Ein altes Märchen wird neu erzählt
Die Belgierin Amélie Nothomb (Jahrgang 1967) ist eine Vielschreiberin. Ihre unzähligen Romane erscheinen in 39 Sprachen und erhielten bereits zahlreiche Nominierungen und Auszeichnungen. Happy End ist eine „Coverversion“ vom Märchen Riquet mit der Locke des französischen Schriftstellers Charles Perrault (1620-1703), das im Anhang des Romans wiedergegeben ist.
Die Schöne und der Hässliche
Déodat hat ein Gesicht und einen Körperbau, der als so hässlich beschrieben wird, dass selbst seine Eltern erschrecken, als sie ihn das erste Mal sehen. Dieses Erscheinungsbild bringt ihm im Laufe seines Lebens Hohn, Spott, Verachtung und Grausamkeit ein. Aber Déodat ist hochintelligent; er studiert seine Peiniger und weiß ihre Schmähungen für sich zu nutzen. Unfähig, Emotionen angemessen zu interpretieren, läuft er Gefahr, seine Mitmenschen auszunutzen, ohne dass er es beabsichtigt. Seine Liebe gilt den Vögeln: Für ihn ist „die Ornithologie die letzte Bastion eines intelligenten Aufwärtsstrebens“.
Trémière dagegen ist eine Schönheit - das bringt ihr schon als Kind den Neid und die Missgunst Anderer ein. Sie wird für ihr gutes Aussehen genauso verachtet, wie Déodat für sein hässliches. Doch anders als er zieht sie sich zurück. Ihre Introvertiertheit führt dazu, dass andere sie als wenig intelligent, ja sogar für schwachsinnig halten, was sie aber mitnichten ist. Erst als junge Frau weiß sie ihre Schönheit und ihre Verschlossenheit zu ihrem Vorteil zu nutzen. Dann treffen sich die beiden Außenseiter, und die Geschichte erfährt ein Happy End.
Hier wird der Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten
Nach welchen Kriterien beurteilen wir andere? Das ist die zentrale Frage dieses Romans, die Nothomb in ihrer unvergleichlich skurrilen Art des Erzählens dem Leser stellt. Scharfzüngig, mit präzise gesetzten Worten in wenigen Dialogen, dafür aber immer in prägnantem, teilweise witzigem Stil hält sie dem Leser den Spiegel vor und weist ihn darauf hin, dass Äußerlichkeiten oft das Maß der Dinge sind, es aber natürlich nicht sein sollten.
Déodat und Trémière sind Opfer einer nicht reflektierenden, oberflächlichen Gesellschaft, die ihnen ein eigenes Gefühlsleben abspricht. Doch Nothomb schildert das Verborgene und erteilt der Umwelt damit einen Rüffel. Dabei verfällt die Autorin aber nicht in Schwarz/Weiß-Malerei, die bei diesem Thema allzu verführerisch sein könnte. Déodat und Trémière werden durch ihr Leid nicht zu Gutmenschen ohne Fehl und Tadel hochstilisiert, sondern bleiben Individuen mit Fehlern, was sie nicht unbedingt sympathisch, aber durchschnittlich und glaubhaft macht. Damit passt Nothomb Trèmiére und Déodat an die Allgemeinheit an und zeigt, dass auch Außenseiter wie alle anderen sind. Gleichzeitig ermahnt sie den Leser zu einer ganzheitlichen Betrachtung seiner Mitmenschen.
Ein Happy End gibt es nicht immer
Die Autorin behauptet, dass die Meisterwerke der Liebesliteratur zwangsläufig tragisch enden müssen, da sie ansonsten als trivial oder als Groschenromane abgestempelt werden würden. Nur ein verschwindend geringer Teil endet daher in einem Happy End. Das vorliegende Buch trägt, zumindest in der deutschen Übersetzung, den Ausgang schon im Titel - was schade ist, weiß man so doch schon von vorneherein, dass es zu den grandiosen Ausnahmen gehört. Gleichzeitig macht die Aussicht auf ein gutes Ende aber auch die Schmähungen und Gemeinheiten, denen Trémière und Déodat ausgesetzt sind, erträglicher.
Happy End ist dabei wirklich alles andere als ein Massenprodukt der Trivialliteratur. Mit einer eher ungewöhnlichen Liebesgeschichte, der elaborierten Sprache und dem exzellenten Stil des auktorialen Erzählers hebt sich der Roman wohltuend ab. Wer gerne anspruchslose Liebesgeschichten liest, ist hier eindeutig falsch!
Fazit
Amélie Nothomb hat mit Happy End wieder einmal einen Roman geschaffen, der sprachlich und inhaltlich brilliert. Die knapp 190 Seiten sind schnell gelesen, füttern den Leser aber mit viel Stoff zu längerer Reflexion.
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