Gott: Ein Theaterstück

- HC, 160 Seiten

Gott: Ein Theaterstück
Gott: Ein Theaterstück
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Yannic Niehr
741001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2020

Wer ist Herr über unser Leben?

Acht Stühle, acht Menschen und eine große Frage, die im Raum steht: Ist es richtig, dass Richard Gärtner, 78 Jahre alt, Witwer und ausweislich zweier unabhängiger Gutachten bei völliger geistiger Gesundheit, seitens eines Arztes ein Medikament erhalten kann, um sein eigenes Leben zu beenden? Gärtner hat seine Frau Elisabeth verloren und schließlich den (mit seiner Familie längst dutzendfach durchdiskutierten) Entschluss gefasst, sterben zu wollen – endgültig, risikoarm, schmerzfrei, selbstbestimmt und in Würde. Nun tagt (öffentlich) der Ethikrat, um diese schwierige Grundsatzfrage zu eruieren. Neben der Vorsitzenden sowie dem weiteren Mitglied Keller sind anwesend ärztliche Sachverständige (Professor Sperling von der Bundesärztekammer sowie Gärtners Augenärztin Dr. Brandt), Rechtsexpertin Litten sowie der Theologe Bischof Thiel; außerdem hat Gärtner seinen Anwalt Biegler mitgebracht. Am Ende sind es jedoch die der Sitzung Beiwohnenden, die angehalten sind, sich an eine Antwort zu wagen …

„Warum glauben Sie, Sie dürften sich für Gott halten?“

Ferdinand von Schirach ist und bleibt Experte darin, mit fiktionalen Sachverhalten zu konfrontieren, die in ihrer Komplexität nur allzu wirklichkeitsnah erscheinen und zumeist an die Grenzen moralischer und/oder ethischer Vorstellungen gehen. Dies hat der gelernte Strafverteidiger (aus dieser beruflichen Laufbahn speist sich höchstwahrscheinlich auch ein Großteil seiner Inspiration) bereits in vielen Romanen, Erzählungen oder Stücken unter Beweis gestellt, die unablässig Diskussionen anstoßen und zum Nachdenken anregen wollen. Sein letztes größeres, diese Formel anwendendes Werk war der Theaterhit Terror, in welchem über das Strafmaß eines Luftwaffenmajors entschieden wird, der ohne direkten Befehl ein Passagierflugzeug abschoss, das von Terroristen entführt worden war und Kurs auf ein mit 70.000 Besuchern gefülltes Stadion genommen hatte. Der besondere Clou dabei: Die Zuschauer durften am Ende selbst über das Urteil abstimmen. Ende 2016 wurde der Stoff fürs Fernsehen adaptiert; bei der Ausstrahlung entschied sich eine bedeutende Mehrheit der Zuschauer für einen Freispruch.

Nun hat er es wieder getan: Das Kernthema des Diskurses in Gott (wohl kaum weniger polarisierend) ist die Beihilfe zum Suizid. Anhand seines Figurenregisters (laut Regieanweisung dürfen alle Rollen bis auf Bischof Thiel mit Frauen oder mit Männern besetzt werden) versucht Schirach hier zunächst, einige Definitionen aufzurollen, was recht gut gelingt. Einschlägig ist jedoch: Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht wohl § 217 des Strafgesetzbuches, der ebenjene Beihilfe zum Suizid unter Strafe stellte, aufgehoben. Zu diesem Zeitpunkt war Schirachs Stück bereits geschrieben, wenn auch noch nicht uraufgeführt, sodass der Autor die realen Gegebenheiten etwas bemüht in seinen Text einflechten musste – was dessen Brisanz tatsächlich ein wenig schmälert. So scheint die Lage aus rechtlicher Sicht (verhältnismäßig) eindeutig. Schwammiger wird es da schon bei den Ansichten seitens der Mediziner, und Theologe Thiel vertritt – als Kontrapunkt zu Gärtners „Verteidiger“ Biegel – ein klares Contra. Es folgen Plädoyers, „Dammbruch“-Argumentationen, persönliche Angriffe, nüchterne Auslassungen, hitzige Streitgespräche und leidenschaftliche Monologe im Ringen um die Meinungshoheit.

„Die Diskussion über diese schwierige Frage hat gerade erst begonnen, ihr Ausgang scheint offen zu sein …“

Man muss Schirach zu Gute halten, dass der Vorwurf, er werfe Begriffe aus den Bereichen der Justiz , der Philosophie und der Ethik etwas unbedacht in einen Topf, diesmal deutlich weniger greifen würde als z.B. bei Terror. Alle Argumente werden von allen erdenklichen Seiten durchleuchtet und der gesetzte Rahmen klar umrissen. Dennoch sollte man sich vor der Lektüre natürlich bewusst sein, dass ein Theaterstück dieser Art einer klaren Programmatik folgt und dementsprechend wenig künstlerisch-literarischen Mehrwehrt bietet. Die Sprache bleibt simpel und präzise, immer darauf bedacht, dem Publikum die Ausgangslage so umfassend wie möglich zu präsentieren und der Zuschauerentscheidung eine fruchtbare Grundlage zu bieten. Natürlich handelt es sich beim Setting um eine Kunstsituation, und die Figuren sind Stereotype, die als Platzhalter für die Bereiche des Rechts, der Medizin, der Philosophie und der Religion fungieren sollen. Dennoch gelingt es Schirach dabei überraschend gut, seine Charaktere unterhaltsam und differenziert zu zeichnen, sodass dabei ein knackiger, insgesamt spannender Sozialkrimi entsteht.

Mittlerweile wurde das Stück vor Publikum gespielt (man sollte sich vergegenwärtigen, dass die Liveerfahrung des Theatererlebnisses sicherlich eine ganz andere ist, als das bloße Lesen eines Textes, der für die Bühne geschrieben wurde und von Schauspielern zum Leben erweckt werden soll). Eine eigens eingerichtete Internetpräsenz hält die Abstimmungsergebnisse der verschiedenen Spielorte für Interessierte nach. Ähnlich wie bei Terror wird es darüber hinaus wieder eine Filmversion geben, die noch im November im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt werden soll – auch diesmal dürfte die Publikumsentscheidung für einigen Gesprächszündstoff sorgen.

Fazit

Wo fängt Selbstbestimmung an und wo hört sie auf? Die zentralen Fragen in Gott spalten sicherlich die Gemüter und gehen an die Substanz. Sich diese zentralen Fragen einmal selbst zu stellen und nach den eigenen Prinzipien zu beantworten (soweit es überhaupt endgültige Antworten geben kann), ist ein lohnenswertes individuelles Experiment. Der gesamtgesellschaftlichen Debatte an sich hinkt das Stück allerdings leider eher etwas hinterher statt sie anzuführen, und wird damit seinen eigenen Ansprüchen nur mit Einschränkung gerecht.

Gott: Ein Theaterstück

Ferdinand von Schirach, Luchterhand

Gott: Ein Theaterstück

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