Der Altphilologe und das Meer
Gold und Brokat, hochtrabende Säulen, Kristalllüster, eine Pergola und ein Rosengarten – als hätte es sich vor der Moderne versteckt, liegt das abgeschiedene Grand Hotel Europa irgendwo im Nirgendwo, atmet den Hauch des Vergänglichen und scheint wehmütig dem Glanz vergangener Tage nachzutrauern. Viel Leben findet sich nicht mehr in seinen geschichtsträchtigen Mauern, doch hält ihm ein erlesenes Trüppchen an Stammpersonal sowie -gästen unbedingte Treue: da gibt es den jungen Piccolo Abdul in klassisch roter Pagenuniform, den man gelegentlich auf eine Pausenzigarette vor dem schweren Eingangstor antreffen kann und der einem bei dieser Gelegenheit vielleicht von seiner Herkunft berichtet; der stets professionelle Majordomus Montebello liest einem mit altmodischer Höflichkeit jedem Wunsch von den Augen ab; der unternehmerische „Große Grieche“, der jegliches historische Detail aus dem Gedächtnis zu rezitieren fähige Patelski sowie die militant feministische französische Dichterin Albane streifen wie wunderliche Gespenster durch Zimmer und Flure; und schließlich gibt es da noch die geheimnisumwitterte alte Dame, der das Hotel ursprünglich gehörte, die allerdings niemals vor die Tür ihres bis unter die Decke mit Kunstschätzen vollgepferchten Zimmers mit der Nummer 1 tritt.
Doch bald sollen hier andere Zeiten anbrechen: der neue chinesische Besitzer Mr. Wang hat große Pläne. Noch ist sich vor Ort niemand sicher, ob es sich bei den geplanten Veränderungen um begrüßenswerten Fortschritt handelt, oder um einen Abgesang. Zu diesem Zeitpunkt verschlägt es den Autor und Altphilologen Ilja Leonard Pfeijffer in das Grand Hotel. Er kann sich dessen Charme nicht erwehren und wird schnell in das Leben und Leiden seiner Bewohner verwickelt. Dabei hat er sich doch nur zurückziehen wollen, um die tragische Romanze mit Clio – seine Muse und zugleich Liebe seines Lebens – schriftstellerisch zu verarbeiten.
Clio – ihres Zeichens Kunsthistorikerin – und er schienen wie geschaffen füreinander. Ihretwegen zog Pfeijffer sogar nach Venedig, als es sie beruflich dorthin verschlug. Für ihn selbst gibt es dort zunächst wenig zu tun, bis eine Crew an ihn herantritt, die einen Dokumentarfilm über Pfeijffers Suche nach Material für sein nächstes großes Werk drehen möchte. Der Film dürfe auf satte Subventionen hoffen, mit denen Pfeijffers Recherchen zum zunehmenden Massentourismus vollumfänglich finanziert wären – eine Win-Win-Situation. Mit der nicht immer umgänglichen Clio hingegen entfaltet sich ein gemeinsames Spiel: nämlich die Suche nach dem verschollen geglaubten letzten Gemälde von Caravaggio. Ein Streifzug kreuz und quer über den alten Kontinent beginnt …
„Wir in Europa leben und sterben mit so vielen konkreten Spuren der Geschichte, dass wir die Vergangenheit für den Kern unserer Identität halten. In der Vergangenheit liegen die Stärke und die Schwäche Europas“
Über Grand Hotel Europa zu schreiben ist gar nicht so leicht, denn eigentlich erledigt das Buch diese Aufgabe schon selbst: Ilja Leonard Pfeijffer (einer der namhaftesten zeitgenössischen niederländischen Autoren) hat sich als self-insert-character zum Protagonisten seines neuen Romans erkoren und lässt Realität und Fiktion genüsslich verschmelzen. Es fällt nicht allzu schwer, im Grand Hotel Europa eine Allegorie auf den namensgebenden Kontinent auszumachen – doch ist dies nur der Ausgangspunkt für eine philosophische Reise durch Europas Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Buch ist ganz bewusst so angelegt, dass es weit mehr aus Exkurs besteht als aus Plot – dennoch verwebt Pfeijffer sehr gekonnt die Handlungsstränge über sein Leben mit Clio und seine Arbeiten mit den Dokumentarfilmern sowie über seinen gegenwärtigen Aufenthalt im Hotel und die Gespräche mit den Charakteren, die er dort antrifft.
„Wenn das Abendland aber daran zugrunde geht, dass es sich nach der kräftig strahlenden Sonne der Mittagsstunde zurücksehnt, dann kann die Nostalgie dafür unmöglich das richtige Gegenmittel sein“
Immer wieder ergeht sich der Text in exzessiven Gedankengängen über Europas Bewusstsein für und Verhältnis zu seiner eigenen Tradition, Kunst und Vergangenheit, die es auszeichnen, deren Überschuss es aber auch zu rückwärtsgewandtem, verklärendem oder selbstzerstörerischem Verhalten verleitet. Im Rahmen des Dokumentarfilms und der dafür geführten Interviews wird das ambivalente Phänomen der zunehmend überall einfallenden touristischen Horden (notwendiges Übel oder kultureller Ausverkauf?) zu einem Leitthema. Hierdurch ist der Roman nicht zuletzt auch ein Sammelsurium an europäischen Kuriositäten und Anekdoten, die einen immer wieder die Internetsuchmaschine der Wahl aufrufen lassen, nur um jedes Mal verblüfft festzustellen: das ist tatsächlich wahr. Angeschnitten werden aber auch die großen Fragen der Gegenwart wie die kapitalistische Globalisierung, die stetig wachsenden Ströme an Geflüchteten und die damit verbundenen Herausforderungen. Jeder dieser Diskurse wird differenziert und von allen möglichen Seiten ausgeleuchtet. Was dabei vor allem anderen ins Auge sticht, ist Pfeijffers Schreibstil, dessen intellektuelle Eloquenz ihresgleichen sucht – mal schwülstig und ausladend, mal romantisch und erhaben. Seine Ausdrucksweise allein bietet enormen Unterhaltungswert. Eine besser geschriebene fiktive Bestandsaufnahme des europäischen Zustands und dessen (unabdingbarem) Wandel könnte man sich kaum wünschen.
„Liebe in Zeiten des Massentourismus“
Dieser Stil verhindert auch, dass das Buch zu einem unverdaulichen Brocken schwerer Kost verkommt – denn so treffsicher und wortgewandt Pfeijffers Sprache auch gerät, kommt ihm dabei nie der Humor abhanden. Wenn er expliziten Sexszenen, deren Inhalt eigentlich zutiefst geschmacklos ist, dieselbe überlebensgroße Poesie zukommen lässt wie einer Liebeserklärung an die Stadt Venedig, entsteht echte Komik. Fast schelmisch gerät sein Spiel mit Metaebenen, und man hat das Gefühl, zwischen den Zeilen zwinkere er einem ständig ironisch zu, sodass man bald überall einen doppelten Boden vermutet und stetig darüber nachgrübelt, was er denn nun wirklich ernst meint und was nicht. Dennoch treibt er seine Süffisanz nie so sehr auf die Spitze, dass es einen abstoßen oder die emotionale wie künstlerische Integrität seiner Worte unterwandern würde – eine beeindruckende Gratwanderung, die bis zum pointierten Finale konsequent durchgezogen wird.
Fazit
Grand Hotel Europa ist das Buch der Stunde. Nicht nur macht Pfeijffers Prosa geradezu süchtig, die inhaltliche Komposition seines Werkes ist überraschend, kurzweilig, berührend, urkomisch – die vielen scheinbaren Widersprüche, die hier auf formaler Ebene vereint werden, sind ein genialer Spiegel der europäischen Identität und der auf diesem Kontinent damals wie heute stattfindenden Geschichte(n). Ilja Leonard Pfeijffer hat eine Ode an Europa verfasst, die zwar in ihrer Lektüre sehr speziell ist, durch ihren Facettenreichtum jedoch zu echtem Nachdenken anregt!
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