Selbst ist die Frau
Ein Bub sollte es sein, doch auch das dritte Kind ist ein Mädchen geworden. Die Enttäuschung ist groß und der frischgebackene Vater stur, sodass er dem Standesbeamten nicht widerspricht, als ihn dieser fragt: «Isch e Bub?», und nur bestätigend nickt. Das Kind wird erst einmal auf den Namen Martin eintragen. Die Mutter muss mit schwerem Geschütz auffahren, und erst nach sieben Tagen wird der Eintrag auf den Namen Martina geändert. Das war Tante Martls Start ins Leben.
Schon wieder ein Mädchen
Martl, wie Martina genannt wird, wurde 1925 geboren. Dem Vater wäre ein Sohn lieber gewesen, und das lässt er Martl ihr ganzes Leben lang spüren. Die beiden älteren Schwestern, Barbara und Rosemarie, werden von ihm bevorzugt behandelt. Als Jüngste muss Martl so manches ausbaden und wird immer wieder wie ein Bub bestraft. Doch sie geht, vielleicht gerade deshalb, ihren Weg.
Keine einfache Kindheit
Martl bleibt ledig und wohnt ihr Leben lang im Elternhaus, in einer eigenen Wohnung. Sie wird Lehrerin, macht den Führerschein und fährt mit ihrem VW-Käfer bis nach Italien. Sie steht in keiner finanziellen Abhängigkeit, was so gar nicht dem damaligen Frauenbild entspricht: «Sie hatte einen Beruf. Sie war Volksschullehrerin. Hatte ein eigenes Gehalt. Das hatte beileibe nicht jede deutsche Hausfrau. Sie hatte einen Führerschein. Sie hatte einen VW-Käfer. Sie ist damit über die Alpen gejuckelt. Sie war eigentlich selbstständig. Aber sie war auch die Tante, die an den anderen Familien so ein bisschen wie ein Attribut dranhing, ohne eine eigene autonome Familie zu haben." »
Innerhalb der Familie kümmert sich Martl um alles und alle. Als der Vater krank wird, ist es Martl, die ihn pflegt und seine Launen erträgt. Sie ist auch bei den Schwestern als Unterstützung im Haushalt stets willkommen. Und dennoch steht sie scheinbar immer irgendwie hinten an: «Unverzichtbar zu sein ist nicht dasselbe wie geliebt zu werden, aber es kommt doch ein wenig in die Nähe davon.»
Mit zunehmendem Alter öffnet sich Martl ihrer Nichte gegenüber mehr und hinterlässt beim Erzählen, eingestreut wie Kieselsteine, Hinweise auf ihr Leben. Das wirft ein ganz anderes Bild auf die Tante und lässt die Nichte staunen: «Ohne es benennen zu können, ahnte ich, dass man ein Leben zwischen verschiedenen Räumen führen kann, deren Verbindungstüren für andere verschlossen bleiben.»
Ursula März erzählt mit viel Liebe und facettenreich die Lebensgeschichte ihrer Tante. Diese war eigenständig, manchmal eigensinnig, emanzipiert und trotz allem ihrer Familie sehr verbunden. Es ist eine Zeitreise in eine andere Welt und ein wunderbares Portrait über eine bemerkenswerte und warmherzige Frau.
Fazit
Ein ungewöhnlicher Roman über eine nicht gewollte Tochter, welche sich schließlich als Stütze der Familie erweist. Die Geschichte einer unglaublich tapferen und starken Frau. Tante Martl ist ein pointiert geschriebener Lebensbericht und eine wunderbare Liebeserklärung der Nichte an die Patentante.
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