Zwölf Tage des Abschieds - und der Erinnerung
1974 stirbt ein junger Anwalt in Frankfurt am Main. Zu seinen Klienten gehörten Rocker, Stricher und Anhänger der linken Szene. Seine Frau, die schon drei Jahre von ihm getrennt lebt, versucht, Zugang zum Leben des Mannes zu erhalten, Erinnerungen zu pflegen und gleichzeitig Abschied zu nehmen ...
Eine Mischung aus Wahrheit und Fiktion
In Scheintod vermischt Eva Demski Realität und Fiktion. Tatsache ist, dass sie mit Reiner Demski bis zu seinem Tod 1974 verheiratet war, der, wie der tote Protagonist des Buches, Anwalt der linken Szene, schwul und egozentrisch war. Immer wieder tauchen versteckte Hinweise zu historischen Personen auf wie Ulrike Meinhof, Andreas Baader oder Daniel Cohn-Bendit. Was genau Fiktion und was Wahrheit ist, bleibt unklar; es ist aber eigentlich auch nicht wichtig, denn es ist unerheblich für die Geschichte und animiert im Gegenteil den Leser zum Nachdenken.
Eine immer noch packende Geschichte
Scheintod erschien erstmals 1984 im Carl Hanser Verlag und wurde seitdem mehrmals in verschiedenen Verlagen wieder aufgelegt - eine Aufarbeitung der verschiedenen Ausgaben und eine Rezeption findet man im umfangreichen Nachwort von Wolfgang Schopf. Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung waren die Anschläge der RAF noch präsent in den Köpfen der Menschen, der deutsche Herbst noch nicht lange vorbei. Das begünstigte die Brisanz des Romans und Eva Demski wurde prompt für die Darstellung der linksradikalen Szene scharf kritisiert. Heute, mit über 35 Jahren Abstand, tritt die politische Komponente in den Hintergrund, die literarische Handlung wird wichtig und vorrangig beurteilt. Natürlich sollte der Leser die deutsche Geschichte der damaligen Zeit und ihre Akteure kennen, um die Geschehnisse und Hinweise zu verstehen, aber auch ohne diese Kenntnis bleibt es ein packender und gut erzählter Plot.
Namenlose Protagonisten schaffen Distanz
Es gibt nur ganz wenige Handelnde mit Namen in dem Roman; die meisten sind auf ihren sozialen Status beschränkt: Es gibt „die Schwiegereltern“, „den Mann“ und natürlich „die Frau“, die nur einmal als „Frau D.“ angesprochen wird. Damit schafft Demski eine Distanz zwischen sich und dem Erzählten, lässt den Leser im Unklaren, ob er Fiktion oder Realität vor sich hat. Jedoch gibt sie die Charaktere der Personen gestochen scharf wieder. Die Mutter sieht in ihrem Sohn immer noch den kleinen Jungen, der unfehlbar, klug und von vielen missverstanden war. Der Mann wird als engagierter Anwalt mit ungewöhnlicher Klientel dargestellt, der homosexuell war und gerne sehr junge Liebhaber hatte. Er passte mit seinen Einstellungen wunderbar in die linke Szene, war narzisstisch-egozentrisch und selbst im Tod noch so sperrig, dass man ihn kaum durch das gewundene Treppenhaus schaffen konnte. Die Frau ist da weniger gut einzuordnen: Obwohl sie durch ihren Mann Kontakt zu radikalen Linken hatte, ist nicht endgültig auszumachen, wie sie zu ihnen steht. Durch ihre Trennung vom Mann hat sie einen Schlussstrich gezogen, der ihr ein Leben in einer nahezu penibel ordentlichen Wohnung ermöglicht, aber sie von dem Mann entfernt, den sie anscheinend immer noch liebt. Die Klienten des Anwalts bleiben nebulös, ihre Machenschaften werden lediglich angerissen – hier ist das Hintergrundwissen des Lesers gefragt. Die Lektüre fordert den Leser nicht nur wegen Anonymität der Handelnden: Es gibt auch keine einzige wörtliche Rede in dem Buch. Man begibt sich komplett in den Gedankenstrom der Frau und muss durch ihn erkennen, ja manchmal erahnen, was los ist. Gedanken geben Gefühle, Anforderungen und auch Aktionen wieder, die in einem konventionelleren Schreibstil wahrscheinlich einfacher zu definieren und manchmal auch zu begreifen wären.
Wem gehört die Erinnerung?
Der Roman umfasst die ersten zwölf Tage als Witwe für die Frau – vom Tod des Anwalts bis zu seiner Beisetzung. Der Schock, die Vorstellung vom Mann in der Gerichtsmedizin – das bestimmt die ersten Tage. Doch dann kommen Erinnerungen, die Konfrontation mit den Schwiegereltern und die Forderungen von Klienten auf Herausgabe einer Tasche, die erst noch von der Frau gefunden werden muss und von ihr in den kommenden Tagen Überlegungen fordert, wie sie mit dem brisanten Inhalt umgehen sollte. Der Tote ist nur scheintot, denn er beschäftigt so, auf unterschiedliche Art, sein Umfeld weiterhin. Während der Beisetzung wird dann überdeutlich, dass alle Anspruch auf ganz spezifische Erinnerungen haben und diesem Anspruch auf ihre typische Art Ausdruck verleihen: Die Eltern und Verwandten trauern tränenreich in schwarz; die Rocker in Leder mit ordentlich abgestellten Maschinen; die Homosexuellen leise, da sie unerkannt bleiben müssen; die Linksradikalen mit hochgereckter Faust und Fahnen und die Frau mit biederem Blumenstrauß in der einen und vier Patronen Munition in der anderen Hand.
Fazit
Eva Demski hat mit Scheintod einen literarisch grandiosen Roman geschrieben! Er spiegelt das Leben in Deutschland 1974 wieder und zeigt gleichzeitig die ganz persönliche Seite eines plötzlichen Todes und die Erkenntnis für die unterschiedlichen Hinterbliebenen, dass ab jetzt alles nur noch Erinnerung sein wird.
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