Ein emotional vollgepackter Roman über eine faszinierende Frau
Paris in den späten 1940ern ist eine unsichere Zeit, mit den Nazis vor den Toren des Landes. Die junge Solange will Schriftstellerin werden und hat ihre Muse in ihrer Großmutter Marthe de Florian gefunden. Diese hat ein aufregendes Leben geführt und enthüllt Stück für Stück ihre Vergangenheit. Doch der Zweite Weltkrieg rückt immer näher, und Solange muss als Halbjüdin um ihr Leben fürchten ...
„‘Ich bin alt genug, um zu wissen, dass Männer von zwei Dingen getrieben werden: Krieg und Sex.‘ Sie lächelte. ‚Und für Krieg habe ich mich noch nie interessiert.‘“
Solange ist bereits 19, als sie ihre Großmutter kennenlernt. Diese gab ihren Sohn Henri, Solanges Vater, kurz nach der Geburt ab, sodass dieser selbst erst spät seine leibliche Mutter kennenlernen durfte. Solange ist schnell fasziniert von Marthe de Florian, einer Kurtisane, die dank des reichen Gönners Charles ein Leben in Luxus genießen durfte. Selbst eine Wohnung und genügend Unterhalt, um sich an den schönen Künsten zu erfreuen, hat er ihr bezahlt und sie so zu einer sorglosen Frau gemacht.
Mit jedem Besuch enthüllt Marthe mehr von ihrer Vergangenheit: wie sie Ende des 19. Jahrhunderts in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, erst Näherin, dann Tänzerin geworden ist und schließlich von Charles entdeckt wurde. Solange saugt ihre Geschichten mit Vergnügen auf, doch ihre gemeinsame Zeit ist begrenzt: Marthe ist bereits in ihren Siebzigern und ihre Vitalität lässt zunehmend nach - und Hitlers Armee rückt immer weiter vor und macht Paris zu einem Pulverfass.
Ein wenig Licht in diese Düsternis bringt der Jude Alex, der gemeinsam mit seinem Vater antike Bücher kauft und verkauft. Solange und er verlieben sich ineinander und träumen von einer gemeinsamen Zukunft. Als die Gerüchte immer lauter werden, dass Juden in ganz Europa deportiert werden, müssen sie sich entscheiden: das Land verlassen oder auf die französische Armee vertrauen ..?
„Ihre Finger wanderten zu dem Schmetterling. Ich war noch nie einem Menschen begegnet, der mich mit einer simplen Geste so in Bann schlagen konnte.“
Während dieser Roman das erste Buch der Autorin für mich war, kribbelt es mir bereits in den Fingern, noch weitere von ihr zu lesen. Dieses Buch ist ein echtes Überraschungspaket und – ein Kompliment an den Verlag – auch das Äußere passt hervorragend zur Opulenz im Inneren. Selten hat mich ein Buch gleichzeitig so berührt, fasziniert und erstaunt!
Das Zimmer aus Samt wird aus zweifacher Sicht erzählt: Um 1940 herum berichtet Solange von den unruhigen Zeiten in Paris, von den Ängsten der Menschen, die den nahenden Krieg fürchten, während die Wohnung ihrer Großmutter den krassen Kontrast bildet und wie ein Schutzraum wirkt; Marthes Geschichte beginnt 1888 in Paris, eine Zeit des aufstrebenden Europas, und mittendrin eine Tänzerin mit großen Träumen.
Marthe de Florian ist ganz klar der Mittelpunkt des Romans: Sie trägt eine Sinnlichkeit und einen Stolz zur Schau, der mit jedem Satz durchscheint. Sie ist ein würdevoller Charakter, der auch im hohen Alter nichts von seinem Glanz verliert. Ihre Liebe für das Teure und Schöne, für chinesische Porzellanvasen und duftende Veilchen, für Ölgemälde und seidene Kleider entspricht ebenso ihrem Wesen wie die verletzliche Seite, die Angst, irgendwann ohne Charles zu sein und die Scham, ihr Kind abgegeben zu haben.
Noch faszinierender wird ihre Geschichte dadurch, dass es diese Frau und auch Solange wirklich gegeben hat. Viel weiß man nicht, und Alyson Richman hat die großen Lücken fiktiv gefüllt - jedoch strahlt zwischen jeder Zeile eine gewaltige mysteriöse Aura, sodass man jedes Wort glauben möchte. Dazu ein Fakt am Rande: Im Buch wird von Marthe ein Porträt angefertigt – dieses gibt es wirklich und kann im Internet gefunden werden. Dadurch bekommt man von ihr ein Gesicht und der Mythos wird perfekt.
Fazit
Obwohl man nicht viel über Marthe de Florian weiß, so hat Alyson Richman eine fantastische Geschichte zwischen den Fakten gesponnen und dabei poetisch und wortgewandt ihr Leben erzählt. Dank ihrer kraftvollen Ausdrucksweise hallt das Geschriebene noch lange nach.
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