Namenlos, orientierungslos – Hauptsache nicht arbeitslos!
Eine Frau ohne Namen, und scheinbar ohne Identität – abgesehen von der, die sie sich über ihre zahllosen Jobs zu beziehen versucht. In einer Welt, die der unseren durchaus ähnelt, rackert sich die Ich-Erzählerin von morgens bis abends ab – immer nur als Aushilfe, versteht sich. Alles muss schneller, höher, weiter gehen, alles scheint praktisch gleichzeitig abzulaufen, alle Optionen sollte man sich hier offenhalten und sich insgesamt so breit aufstellen wie möglich. Die Entfristung – das ist ein Heilsversprechen, eine Utopie, ein Silberstreifen am Horizont, einst von den Göttern versprochen und bislang doch nie eingelöst. Auf dem scheinbar endlosen Weg dorthin verdingt sich unsere Aushilfe u.a. als Botin einer Hexe (oder „Chefin vom Flugblattdienst“, wie sie sich lieber bezeichnet wissen möchte), als Assistentin eines Serienmörders, als Türöffnerin und -schließerin, heuert auf einem Piratenschiff an, wird zur menschlichen Seepocke, und sogar zur Mutter. Begleitet wird sie von den Geistern, die sie nie rief: einem toten Vorstandsvorsitzenden, dessen Asche in einem Kettenanhänger um ihren Hals baumelt – und der keine allzu große Hilfe ist. Wird diese Aushilfe ihrem (Arbeits-)leben dennoch am Ende einen Sinn abringen und das Ziel aller Ziele erreichen können: Beständigkeit ..?
„'Kann ich bleiben? Unbefristet?', fragte sie, und die Götter lachten und machten Mittagspause"
Hilary Leichter (Jahrgang 1985) ist dem Schreiben nicht fremd – immerhin doziert sie es an der New Yorker Columbia University, nachdem sie u.a. bereits für The Cut und andere hochrangige Magazine tätig war. Dennoch ist Die Hauptsache überraschenderweise ihr Romandebüt – und dieses ist so einiges, vor allem aber: speziell. Dabei setzt Leichter sich hier im Kern mit Themen auseinander, die immer häufiger als die großen Knackpunkte unserer Zeit bezeichnet werden: Es geht um die zunehmende Beschleunigung der Gesellschaft, um die wachsenden Anforderungen an Flexibilität und Einsatz (oder, wenn man so will, Bereitschaft zur Selbstverleugnung) auf dem Arbeitsmarkt, um die gleichzeitige qualitative Inflation von Angestelltenverhältnissen. Work/Life-Balance bleibt in der schrägen Welt dieses Romans ein Fremdwort, denn Arbeit und Leben hängen für die austauschbaren Aushilfen am unteren Ende der Nahrungskette untrennbar miteinander zusammen. Langfristige Pläne sind nicht drin, ein individuelles Leben (zumindest eines ohne Arbeit) existiert nicht für sie; dafür bleibt ja auch keine Zeit (dementsprechend hat die Erzählerin ein ganzes Rudel fester Freunde – gleich einen für jede Lebenslage ). Es soll sie zwar noch geben, diese von einer geradezu mythischen Aura umgebenen Menschen, deren Arbeitsverhältnis unbefristet ist, die einen von ihrer Arbeit klar getrennten Feierabend haben, die gar ihren „Traumjob“ machen. Doch Aushilfen können sich im Alltag kaum Gedanken darüber machen – denn sie müssen ja arbeiten.
„Ich hatte nie das Gefühl, für irgendetwas qualifiziert zu sein, außer dafür, nicht qualifiziert zu sein“
Gewöhnungsbedürftig ist wohl der Stil, in dem die Autorin diese fremde (und doch nur allzu vertraute) Welt zeichnet: Zeit und Raum scheinen hier nicht von Bedeutung zu sein, alles fließt traumwandlerisch ineinander; eine Verrücktheit jagt die nächste; es mischen sich abenteuerliche Abstrusitäten, philosophische Betrachtungen, Versatzstücke aus (größtenteils fiktiven) Legenden und religiösen Texten. Leichter bedient sich der Effekte des absurden Theaters und hat damit ein Buch produziert, das vage an einen verschriftlichen Monty-Python-Film erinnert – mit einem guten Schuss existenzialistischen Grauens à la David Lynch. Diese atemlose Dynamik, in welcher die bizarrsten Gegebenheiten ganz nüchtern vorgetragen und die vermeintlich banalsten Aspekte der Arbeitswelt mit Sagengestalten und fantasylastigen Gedankenexperimenten angereichert werden, ist offensichtlich Teil der Programmatik des Romans und faszinierend zu lesen - blockiert allerdings jegliche Emotionalität, mit der man diese zentralen Themen, die schließlich in gewisser Weise die Lebensrealität vieler Menschen widerspiegeln sollen, hätte aufladen können. Zwar entbehrt die gekonnte sprachliche Gestaltung des Buches nicht eines feinen Humors, sie wird aber auch viele Leser:innen schlicht und ergreifend nicht erreichen können.
Fazit
Die Hauptsache ist literarische Pop-Art, fast völlig frei von Sentimentalität, dafür nicht ohne Tiefgang. Allerdings ist der Roman und seine Art der Aufbereitung von grundlegenden Fragen und Herausforderungen der modernen Welt, in der wir leben und arbeiten, (trotz seiner Kürze) sperrig und äußerst eigenwillig. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, sollte aber einen Blick riskieren – Hilary Leichter hat durchaus etwas zu sagen!
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