Was wir scheinen

  • Eichborn
  • Erschienen: Februar 2021
  • 1

- HC, 576 Seiten

Was wir scheinen
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Carola Krauße-Reim
901001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2021

Ein Roman über Hannah Ahrendt

Die Schweizerin Hildegard E. Keller ist Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Sie war von 2009 bis 2019 Jurorin des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbes, jahrelang Mitglied im Literaturclub des Schweizer Fernsehens, lehrte in den USA, und ist seit 2001 Professorin für Literatur an der Universität Zürich. Was wir scheinen ist ihr erster Roman.

Das Leben der Hannah Ahrendt

Hannah Ahrendt wurde 1906 als Tochter sekulärer jüdischer Eltern in Hannover geboren, wuchs in Königsberg auf, studierte u.a. Philosophie in Marburg bei Martin Heidegger und promovierte bei Karl Jaspers in Freiburg. 1933 emigrierte sie nach Frankreich und wurde dort 1940 ins Camp Gurs deportiert, von wo sie nach etwa einem Monat fliehen konnte. Über Lissabon kam sie zusammen mit Heinrich Blücher, ihrem zweiten Ehemann, und ihrer Mutter nach New York. Anfangs schrieb sie Artikel und Kolumnen für das deutsch-jüdische Magazin „Aufbau“, arbeite als Lektorin und veröffentlichte Essays und Aufsätze, in denen sie sich mit den Auswirkungen des Nationalsozialismus auseinandersetzte - bis sie sich nach Kriegsende der Existenzphilosophie widmete und in den Folgejahren verschiedene Gastprofessuren wie auch feste Professuren in den USA innehatte. 1961 nahm Hannah Ahrendt als Reporterin für das amerikanische Magazin „The New Yorker“ am Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem teil. Doch die Artikel darüber und das nachfolgende Buch Eichmann in Jerusalem – ein Bericht von der Banalität des Bösen sorgten für eine große Kontroverse, während der Arendt persönlich stark angefeindet wurde. Denn anders als von allen angenommen, ging sie völlig neutral an das Thema heran: Sie betrachtete Eichmann nicht mit der Kenntnis über die Shoah im Hinterkopf und durch die Augen einer aus Nazideutschland geflohenen Jüdin, sondern als unabhängige Denkerin, die auch eine Mitschuld der Judenräte am Ausmaß der Shoah in Erwägung zog und Eichmann als Bürokraten ohne eigenständiges Denken klassifizierte, der eben „die Banalität des Bösen“ verkörperte. Die daraus resultierenden Schmähungen setzten ihr sehr zu, doch sie behauptete sich und führte ihre Lehrtätigkeit und ihre Forschungen über die Macht des Totalitarismus fort. Am 4. Dezember 1975 starb sie in New York.

Die Biografie als Gerüst

Dieses bewegte und öffentlich bekannte Leben hat Keller als Gerüst genommen und es mit Emotionen, Gedanken und privatem Hintergrund gefüllt. Herausgekommen ist ein Roman über Hannah Ahrendt, in dem sie selbst das Wort hat, der Leser sich quasi in ihrem Kopf befindet und eine Reise durch ihre Gedankenwelt unternimmt. Im Frühjahr 1975 fährt Arendt noch einmal nach Tegna, einem kleinen Dorf im Tessin, das für sie und ihren verstorbenen Mann jahrelang ein Urlaubsziel war. Sie denkt über ihr Leben nach - nicht chronologisch, sondern in Bruchstücken, immer durch eine Begebenheit angeregt, wobei natürlich der Eichmann-Prozess und seine Auswirkungen eine große Rolle spielen; aber auch andere private Erlebnisse und Vorkommnisse finden ihren Platz in den Erinnerungen. Der Leser erlebt eine private Person, die in ihrem Leben schon viele Rollen hatte: Tochter, Geliebte, Ehefrau, Professorin, Denkerin und vor allem Freundin - denn die Beziehung zu anderen Menschen war ihr schon immer wichtig, was sich auch in einer Fülle an versandten und erhaltenen Briefen manifestiert. Alle ihre Gedanken und Emotionen sind natürlich fiktiv, doch durchaus nachvollziehbar aus der gegebenen Faktenlage. Ahrendt hinterfragt alles: Alles wird philosophisch betrachtet, und immer steht der Aufruf zum eigenständigen Denken im Vordergrund. Die Ausdrucksweise ist dabei an die öffentlich bekannte angelehnt: präzise und dennoch mit viel Witz und tiefgründigem Humor. Man hat wirklich das Gefühl, Hannah Ahrendt vor sich zu haben. Der Stil ist komplex und die immer wieder eingestreuten Anglizismen oder auch ganzen Sätze in Englisch waren typisch für sie, nachdem sie die fremde Sprache quasi assimiliert hatte und diese fast die Überhand über ihre deutsche Muttersprache erlangte – ein Zeichen dafür, wie sehr sich Ahrendt von Deutschland gelöst hatte.

Mary, Martin, Karl …

Wer sich noch nie mit Hannah Ahrendt, ihrem Leben und ihrem Werk auseinandergesetzt hat, dürfte diesen Roman wenig lesenswert finden; vieles ist nur aus dem Kontext oder mit Vorwissen verständlich. Gerade wenn es um Freundschaften oder Beziehungen geht, sollte man sich ein wenig auskennen, denn es werden nur Vornamen genannt. So muss man wissen, dass „Mary“ Mary McCarthy ist, „Benji“ Walter Benjamin, „Scholem“ Gershom Scholem, „Kurt“ Kurt Blumenfeld und „Karl“ Karl Jespers - um nur ganz wenige zu nennen. Dazu kommen viele Anspielungen, die ohne Hintergrundwissen völlig unverständlich sind: Wenn z.B. auf Ingeborg Bachmanns Lebensgefährten hingewiesen wird (welcher Max Frisch war) oder Rom ins Gespräch kommt, sollte man über diese Umstände Bescheid wissen - oder auch über Arendts schwieriges Verhältnis zu Martin Heidegger, der ihr Liebhaber und Professor war, und dem nationalsozialistischen Gedankengut zugeneigt. Wenn man aber nicht ganz unwissend an diesen Roman herangeht, ist er eine wahre Freude! Hannah Ahrendt hat zeitlebens die Öffentlichkeit gescheut und ihre Privatsphäre weitestgehend geschützt; so liegt der Bekanntheitswert für Außenstehende fast ausschließlich in ihrem Werk. Jetzt aber zeigt Keller eine Frau, deren Gedanken zwar hochintellektuell und komplex sind, die aber auch Emotionen, Humor und Witz besitzt und so von der genialen Denkerin zum Menschen wird.

Fazit

Was wir scheinen ist ein Hochgenuss! Hildegard E. Keller bringt dem Leser eine der größten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts auf sehr intime Art nahe. Allerdings sollten das Leben von Hannah Ahrendt und ihr Werk nicht unbekannt sein, denn Hintergrundwissen wird von der Autorin vorausgesetzt, und nur damit kann man den Roman verstehen und würdigen.

Was wir scheinen

Hildegard E. Keller, Eichborn

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