Große Liebe Halligen
Titel und Klappentext lassen an einen heiteren, leichten Roman denken, der einen für einen Tag am Strand unterhält, den man danach aber wieder vergisst und dessen Inhalt sich mit dem anderer Urlaubslektüren zu einer diffusen Melange vermischt. Doch hinter Klara Jahn steckt eine bekannte, aus Österreich stammende Autorin, die unter einer Vielzahl an Pseudonymen bereits in diversen Genres (u.a. Kinderbücher, Historienromane, Familiensagas …) veröffentlich hat. Wer von dieser Autorin schon etwas gelesen hat, weiß somit, dass Leser’innen sich normalerweise auf einen Roman oberhalb des Durchschnitts freuen dürfen, der neben vergnüglichen auch nachhaltige Lesestunden beschert. So ist es auch diesmal.
Die Farbe des Nordwinds ist eine wundervoll geschriebene Liebeserklärung an die Halligen, diese kleinen, kargen Inseln voller herber Schönheit vor der Nordseeküste Deutschlands und Dänemarks. Wie die Inseln, so sind auch ihre Bewohner: auf den ersten Blick schroff und abweisend, aber voller versteckter Sanftheit und unvermuteter Schönheit, wenn man sie näher kennenlernt.
Ein Neuanfang ist oft nicht leicht
Ellen kehrt an den einzigen Ort zurück, an dem sie sich in ihrer unsteten Kindheit und Jugend jemals zuhause gefühlt hat: auf eine Hallig. Sie tritt dort die Stelle als Lehrerin in der Halligschule an und freut sich auf einen Neuanfang, darauf, ihr Leben nun endlich leben zu können. Doch sie merkt auch recht schnell, dass das alles nicht so einfach ist. Als Ellen als Jugendliche nach ein paar Monaten wieder fort muss, lässt sie auch Liske, ihre Stiefschwester auf Zeit, zurück, und dieses Zurücklassen hat tiefe Wunden geschlagen, die auch nach all den Jahren noch nicht verheilt sind, sondern wieder aufbrechen. Diese von Annäherung und Ablehnung geprägte Beziehung, die Ellen ein wirkliches Ankommen schwermacht, ist einfühlsam und glaubhaft dargestellt.
Doch ihr Verhältnis zu Liske ist nicht das einzige ihrer Probleme - denn Ellen stellt bald fest, dass die Halligen bei all ihrer Schönheit kein Paradies sind, sondern dass hier aufgrund der räumlichen Enge die gesellschaftlichen Umstände und Schwierigkeiten wie unter einem Brennglas zutage treten. Es geht um Liebe, Tod und Trauer, Selbstoptimierung, Natur- und Küstenschutz, Politik und Intrigen. Die weiteren Charaktere, die die Hallig bevölkern - egal ob alteingesessen oder neu hinzugezogen - sind teilweise liebenswert, teilweise schrullig, manchmal fast skurril, aber immer lebensnah und mit ganz eigenem Charme gezeichnet. Es macht Spaß, mit Ellen die Hallig zu erkunden, Beziehungen zu den Bewohnern zu knüpfen und sich ein neues Leben aufzubauen. Dabei beobachtet man auch, wie Ellen mit sich selber kämpft, wie sie versucht, sich anzupassen, ihre Schwächen zu bekämpfen und dabei droht, auch ihre Stärken aus den Augen und sich selbst zu verlieren.
Die Halligen im Laufe der Zeit
Nebenbei erfährt man auch einiges über das Leben auf den Halligen, zum Beispiel über das „Landunter“, die Organisation der Schule und den Alltag - und zwar sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit. Eine zweite Zeitebene verleiht der Geschichte noch mehr Tiefe, rundet sie ab. Der junge Lehrer Arjen kehrt gegen seinen Willen auf die Hallig zurück, auf der er geboren wurde, auf der er seine Eltern verlor und auf der er seinen jüngeren Bruder zurückließ. In einer Chronik berichtet er von seinem Leben, seiner großen Liebe, seinem schwierigen Verhältnis zu seinem Bruder und seinem verzweifelten Kampf um mehr Schutz für die Halligen vor den Sturmfluten. Es macht Freude, beim Lesen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Leben von Arjen und seinem Bruder sowie Ellen und Liske zu entdecken, ebenso wie herauszufinden, was sich über die Jahrhunderte im Leben der Halligbewohner verändert hat und was nicht.
Auch sprachlich hat das Buch etwas zu bieten. Jahn gelingt es an vielen Stellen mit tollen Formulierungen Gefühle, Erkenntnisse und Tatsachen so präzise zu benennen, dass man mit einem Lächeln diese Sätze gerne noch ein zweites Mal liest. Es gibt auch viele metaphorische Vergleiche, die meistens punktgenau ausdrücken, was gemeint ist, die an einigen Stellen aber auch in den Kitsch abrutschen. Da ist es dann definitiv zu viel des Guten. Glücklicherweise sind diese Stellen aber deutlich in der Unterzahl.
Fazit
Die Farbe des Nordwinds ist eine Liebeserklärung an die Halligen, das Leben, seine Träume und Hoffnungen - fesselnd und farbenprächtig erzählt.
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