Spionage, Mauerbau und der Kampf ums Leben
Am 09.11.1989 fiel die Mauer, am 03.10.1990 erfolgte die offizielle Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Das liegt demnächst 32 bzw. 31 Jahre zurück - und wir leben damit wieder länger in einem geeinten Deutschland, als die Mauer stand, die am 13.08.1961 errichtet wurde. Mit dem Mauerbau und dem de facto Abriegeln von Westberlin, das von DDR-Staatsgebiet umgeben war, änderte sich das Leben von Millionen Menschen schlagartig: Leute waren von ihren Arbeitsstätten abgeschnitten, manche auch von ihren Wohnungen, Familien wurden auseinandergerissen, Nachbarn durch Stacheldraht getrennt. Dieses auch noch aus heutiger Sicht eigentlich unfassbare Vorhaben sowie die dahin führende Geheimoperation „Rose“ bilden den historischen Hintergrund von Titus Müllers neuestem Roman Die fremde Spionin.
BND und KGB - gar nicht so unterschiedliche Gegenspieler
Ein weiteres wichtiges Themengebiet ist die Geheimdienstarbeit in den beiden deutschen Staaten. BND und KGB stehen sich dabei in ihren oftmals fragwürdigen Methoden in nichts nach. „Der Zweck heiligt Mittel“, das könnte das Motto jeglicher Geheimdienstpolitik sein. Illegal oder moralisch verwerflich - egal, so lange es dem höheren Zweck dient. Dieser sieht bei BND und KGB naturgemäß sehr unterschiedlich aus, sodass man beim Gegner das aufs Schärfste verurteilt, was man bei sich selber vehement verteidigt. Auch zählen die Agenten auf beiden Seiten nicht als Menschen, sondern lediglich als Informationsquellen und werden entsprechend „verwendet“. Exemplarisch beschrieben wird das an Ria Nachtmann (BND) und Fjodor Sorokin (KGB).
Ria ist eine junge Frau, die in der DDR lebt. Als sie zehn Jahre alt ist, muss sie mitansehen, wie die Stasi ihren Vater, der politisch unbequem geworden ist, verhaftet. Sie und ihre jüngere Schwester werden getrennt und in systemtreuen Pflegefamilien untergebracht. Ria führt ein scheinbar angepasstes Leben, hat eine Ausbildung absolviert und mit Hilfe ihrer Pflegeeltern eine Stelle als Sekretärin im Ministerium für Außenhandel bekommen. Doch unter der Oberfläche brodelt es ihn ihr. Sie kann der DDR nicht verzeihen, was diese ihr und ihrer Familie angetan hat und ist von dem Wunsch beseelt, ihre Schwester wiederzufinden. Doch der KGB schläft nicht, und mit Sorokin ist ein hochrangiger Top-Spion, der auch schon mehrere Menschen getötet hat, auf ihren Spuren. Doch Sorokin ist nicht mehr mit ganzem Herzen bei der Sache. Am liebsten würde er sich aus dem aktiven Geschäft zurückziehen, heiraten, eine Familie gründen. Doch weder beim KGB noch beim BND kann man einfach kündigen. Es ist ein Job auf Lebenszeit, wie auch Ria schmerzhaft erfahren muss.
Spannung auf hohem Niveau neben fesselnd erzähltem Alltag
Dass Titus Müller spannend, lebendig und fesselnd zu erzählen vermag, hat er schon oft eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die fremde Spionin bildet da keine Ausnahme: Von Anfang an entwickelt sich die Spannung kontinuierlich und wird durch geschickte Wendungen durch die ganze Geschichte hinweg aufrechterhalten. Insbesondere das Gegenspiel von BND und KGB mit Ria in der Mitte trägt dazu dabei. Man weiß als Leser mehr als Ria (nicht nur in Bezug auf den Mauerbau) und verfolgt somit an einigen Stellen atemlos, wie sie mehr und mehr in Gefahr gerät. Auch die Informationen über Geheimdientsttaktiken und -methoden sind spannend eingeflochten, ebenso wie der kalte, menschenverachtenden Umgang der Geheimdienste mit seinen Agenten. Einen interessanten Gegenpol bietet hier Stefan Hähner, Rias Führungsagent, der in den ihm unterstellten Quellen keine Schachfiguren, sondern Menschen sieht. Das verleiht der Dramatik eine zusätzlichen interessanten Aspekt.
Neben diesem Spannungselement entwickelt Müller ein farbiges Panorama des damaligen Alltagslebens. Immer wieder werden Details aus dem Berufs- und Privatleben Anfang der 60er eingestreut, was die Geschichte glaubhaft und erlebbar macht. Allerdings wirken diese Abschnitte an einigen Stellen - insbesondere am Anfang - ein bisschen wie mit Gewalt eingefügt, ganz so, als wolle der Autor möglichst viel von seinem Wissen unterbringen. Da ächzt es dann im Erzählgefüge. Zum Glück legt sich das jedoch rasch, und im weiteren Verlauf fügen sich diese Absätze harmonisch in die Geschichte ein. Ebenso gelungen arbeitet der Autor die Unterschiede zwischen BRD und DDR heraus: auf der einen Seite der Westen, in dem alles bunt, laut und lebendig ist, wo es alles im Überfluss gibt; auf der anderen Seite der Osten, in dem es ruhiger ist, grauer, nicht so modern, und wo Rationierungen noch an der Tagesordnung sind - allerdings sind die Lebenshaltungskosten auch deutlich billiger. Doch alles in allem kann man nachvollziehen, warum der Westen - trotz Kapitalismus - so einen Reiz ausübte und warum die DDR langsam aber sicher ausblutete. Der Autor verschweigt jedoch auch nicht die Überheblichkeit und Arroganz, mit der im Westen alles abgetan wurde, was aus der DDR kam, und die Tatsache, dass diese Behandlung dazu führte, dass sich die Bewohnter Ostberlins oft als Bürger (wenn nicht gar Menschen) zweiter Klasse fühlten. Kein Wunder, dass auf beiden Seiten Ressentiments entstanden, die bis heute anhalten.
Etwas schwächelnde Figurenzeichnung
Überraschenderweise hakt es ein wenig in der Figurenzeichnung. Gerade Ria bleibt zunächst schwer zu fassen. Ihre Gedanken und Gefühle hält sie anfangs auch vor den Leser’innen zurück, sodass man zwar aufgrund ihrer Vorgeschichte auf ihre Haltung und Gefühlswelt rückschließen kann, aber man erfasst das eher auf einer rationalen Ebene, als dass man es emotional erlebt. Nach und nach kommt man Ria dann näher, doch es bleibt eine Distanz durch die ganze Geschichte spürbar. Es ist z.B. einleuchtend, warum sie die DDR so hasst; doch dass sie gleichzeitig das Land gegenüber anderen teilweise verteidigt und ein großes Problem damit hat, dass sie Verrat begeht, als sie sich vom BND anheuern lässt, passt nicht ganz dazu. Diese Ambivalenz, die durchaus interessant wäre, wird nicht thematisiert; die Gründe bleiben nebulös, da die Leser’innen hauptsächlich Einblicke in Rias negative Gedanken bekommen.
Fazit
Dieser kleine Kritikpunkt lässt sich verschmerzen, denn insgesamt ist Die fremde Spionin gelungen: Spannend, fesselnd und faszinierend entsteht vor dem inneren Auge ein Abschnitt der jüngeren deutschen Geschichte, der unser Land für immer veränderte. Das etwas offen gehaltene Ende macht Lust auf den zweiten Teil, der voraussichtlich im Mai nächsten Jahres erscheinen wird.
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