Der große Wind der Zeit
- Luchterhand
- Erschienen: April 2021
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- OT: Chufschat schichrur
- übersetzt von Barbara Linner
- HC, 528 Seiten
Eine Familiengeschichte, für die man sich Zeit nehmen muss
Joshua Sobol, 1939 noch im Völkerbundsmandat für Palästina geboren, lebte zeitweise in einem Kibbuz, studierte Literatur und Geschichte in Israel und Philosophie in Paris. Der heute wohl bekannteste Dramatiker Israels verfasste neben zahlreichen Bühnenstücken auch Romane, die sich immer mit dem Thema Israel oder dem jüdischen Glauben befassen.
Libby findet die Tagebücher ihrer Urgroßmutter
Während eines Besuchs bei ihrem Großvater Dave findet Libby die Tagebücher ihrer Urgroßmutter Eva. Diese kam Anfang des 20. Jahrhunderts nach Palästina - weniger aus religiöser Überzeugung sondern viel mehr aus Trotz und Abgrenzung zu ihrer Familie in Deutschland. Hier gründete sie mit anderen jungen Leuten einen Kibbuz, in dem ihr Sohn Uri - oder Dave, wie er sich jetzt nennt - immer noch lebt. Dessen Kinder und Enkel haben diesen Ort nicht nur längst verlassen, sondern sich auch von der Lebensweise eines Kibbuzim weit entfernt. Sobol spannt mit dieser Familiengeschichte einen Bogen von 100 Jahren Geschichte: vom Mandatsgebiet mit den ersten Kibbuzen über die Widerstandsbewegungen Hagana und Palmach und die Gründung des Staates Israel bis zur heutigen, politisch schwierigen Situation.
Ein Stil, der den Leser fordert
Dieses Buch ist definitiv keine leichte Lektüre - und das nicht nur wegen seines beträchtlichen Umfangs von mehr als 500 Seiten. Sobol bedient sich einer ausgesprochen ausgefeilten Sprache, die den Dramatiker erkennen lässt und Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen verlangt. Das feine Geflecht der unterschiedlichen Lebensgeschichten wird zudem nicht chronologisch und eingängig erzählt, sondern perspektivisch und temporär wechselnd, durch intensive Exkurse - z.B. zu Cervantes und seinem Don Quixote - ergänzt und teilweise auch ein wenig aufgeweicht. Manchmal wird mehr angedeutet oder zwischen den Zeilen erzählt als faktisch dargelegt. Dabei ist eine Kenntnis der Geschichte Israels durchaus von Vorteil, denn die politischen Veränderungen, die Bedeutung der Widerstandsbewegungen und auch die Lage heute sind nicht dezidiert beschrieben, sondern werden zwangsläufig und en passant in die Geschichte der einflussreichen Familie Ben-Chaim eingebaut. Bedauerlich finde ich den ständigen sexuellen Bezug im Text: Kaum ein Kapitel kommt ohne Anspielungen oder erotische Szenen aus, die für das Verständnis selten relevant sind und vielleicht implizieren könnten, dass Sex eine sehr dominante Rolle im Leben der Menschen in diesem Land spielt.
Die Familie Ben-Chaim
Das Fundament des Romans und auch der Familie ist Eva. Sie war ein Freigeist, der Mann und Kind im Kibbuz zurück lässt, um in Deutschland Tanz zu studieren. In Berlin lernt sie Nazis und Theaterleute kennen (herrlich ihre Begegnungen mit dem „Lederjackett“, das eindeutig Brecht sein soll), bevor sie gerade noch rechtzeitig die Rückkehr schafft. Sobol lässt hier eine starke Frau auftreten, die wohl sein Idealbild eines Staates Israel verkörpert: unabhängig, widerstandsfähig und dennoch tolerant gegenüber dem Anderen. „Denn es ist doch nicht möglich, dass der Daseinszweck des Menschen, der im Ebenbild Gottes erschaffen wurde, ist, ein Mistkäfer zu sein! Die Gesellschaft von Gleichheit und Brüderlichkeit, die wir schaffen werden, wird gewiss nur einer kleinen Minderheit vorbehalten sein, doch ihr Zweck ist es, das wenige zu retten, was vom göttlichen Funken im Ebenbild des Menschen noch zu retten ist, und der Menschheit ein Beispiel von einer Gesellschaft nach dem Ebenbild Gottes aufzuzeigen“. Diesen Lebensgedanken hat auch ihr Sohn Dave, der zweite dominante Charakter in der Geschichte. Mental genauso unabhängig wie in seinen Aktionen, darf der Leser ihn auf einen Roadtrip mit seiner betagten Harley durch das Land begleiten. Die Begegnungen mit alten Freunden unterstreichen eindrucksvoll die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens von Juden und Palästinensern. Doch auch die anderen Personen im Roman verkörpern eine kaum verhohlene Gesellschaftskritik – vom wankelmütigen IT-Experten, der kaum entschlusskräftig ist; über den rechtsgerichteten Politiker, der weniger an den Staat, als vielmehr an sich denkt; oder einen Siedler, der einst ein Hardliner war und jetzt nur noch in Ruhe leben möchte; bis hin zur jungen Verhörspezialistin, die die ganze Härte des Nahostkonfliktes zu spüren bekam und jetzt reichlich desillusioniert ist. Alle diese Charaktere dürften aus der Realität entlehnt sein, fordern vom Leser weniger Empathie als Aufmerksamkeit und hinterlassen oft einen schalen Geschmack, der hinsichtlich der politischen Zukunft dieses Landstrichs keine großen Hoffnungen weckt. „Ich erinnere mich daran, dass mein Vater schrie: Wir strecken immer wieder und wieder unsere Hand zum Frieden aus! Und mein Großvater hat ruhig geantwortet: Ziehen sie aber ganz schnell zurück, wenn die andere Seite den Willen erkennen lässt, sie anzunehmen“.
Fazit
Ein Appell an die Menschlichkeit, Toleranz und Nächstenliebe! Joshua Sobol gibt mit Der große Wind der Zeit dem Leser einen gewichtigen Roman an die Hand, was Umfang, Stil, Handlung und Intention betrifft. Er entführt in die Geschichte der Familie Ben-Chaim und damit in die abwechslungsreiche Historie Israels der letzten 100 Jahre.
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