Die Anderen
- Kein & Aber
- Erschienen: März 2021
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- OT: The Other Americans
- aus dem Englischen von Michaela Grabinger
- HC, 432 Seiten
Familiensaga: Ja – Kriminalroman: Nein
Nora Guerraoui hat es geschafft, sich von ihrer Familie abzunabeln und führt als Komponistin und Lehrerin ihr eigenes Leben. Dann schlägt das Schicksal zu: Ihr Vater wird vor seinem Restaurant bei einem Verkehrsunfall getötet, der Unfallfahrer ist flüchtig, es scheint keine Zeugen zu geben. Nora sieht sich nun in einer neuen Rolle: Sie muss in ihr altes Leben zurückkehren und versuchen, das Familiengeschäft zusammenzuhalten. Dabei erfährt sie aber alsbald, dass auch ihr Vater offensichtlich Geheimnisse vor seiner Familie – und insbesondere vor seiner Ehefrau – verbarg. Auch Nora sieht sich mit vielen Aspekten ihrer Kindheit und Jugend im amerikanischen Hinterland konfrontiert: Für ihre aus Marokko zugewanderten Eltern war der Start in der neuen Welt mühsam und hart. Nora und ihre Schwester erfuhren Ablehnung und rassistische Anfeindungen. Dennoch erlebt sie jetzt, dass sich die Zeiten gewandelt haben und dass es bei der Polizei nun auch Ermittler gibt, die nicht gewillt sind, diesen Todesfall einfach als „ungeklärte Fahrerflucht“ zu den Akten zu packen.
Die Mörderjagd findet nicht statt
Eines vorweg: Nur weil in einem Roman jemand ums Leben kommt, muss das nicht automatisch heißen, dass es sich dann bei diesem Buch – so wie es der Klappentext einen glauben lässt – um einen Kriminalroman handelt. Hätte ich mich hier nämlich einfach auf einen Roman über eine marokkanische Familie in den USA einlassen können und nicht die ganze Zeit darauf gebrannt, wann es denn endlich „richtig spannend“ wird, hätte ich dieses Buch sicher mehr genossen. Laila Lalami erzählt die Geschichte von Maryam und Idrissa „Driss“ Guerraoui, die aus politischen Gründen aus Marokko in ein besseres Leben auswanderten und sich in den USA am Rande der Mojave-Wüste und unweit vom Nationalpark Joshua Tree ein neues Leben aufbauen konnten. Hier wurden auch ihre beiden Töchter geboren. Dieses Leben erfährt eine harte Zäsur als Driss – vielleicht vorsätzlich – durch einen Pkw-Unfall getötet wird, und natürlich legt die Familie diesen Todesfall nicht einfach zu den Akten. Aber eine tatsächliche - alles bestimmende - „Tätersuche“ findet in diesem Sinne nicht statt.
Lalamis Roman ist aber auch auf die Spannung eines Krimis nicht angewiesen, fesselt er den Leser doch durch andere Elemente: So ist es der Autorin gelungen, die herbe und trockene Schönheit des Joshua Tree Nationalparks und der ihn umgebenden kleinen Orte so geschickt in die Handlung einzubauen, dass man schon meint, den Sand zwischen den Zähnen knirschen zu hören. Jeweils wechselnd berichten die einzelnen Akteure als Ich-Erzähler, und wenn auch so eine besondere Lebendigkeit durch die unterschiedlichen Beiträge zum Handlungsstrang erreicht wird, kann das den Leser aber auch manchmal verwirren. Die einzelnen Personen werden doch recht unvermittelt eingeführt, und manchmal greift die Autorin recht plötzlich Themen aus der Vergangenheit auf. Dennoch führt diese Konstruktion auch dazu, dass die Schicksale und Motivationen der jeweiligen Erzähler deutlich offenbart werden und es somit sicherlich nicht nur hart arbeitende Polizisten und liebevolle Väter, sondern auch Rowdies und Rüpel gibt – aber auch letztere Gelegenheit bekommen, ihre Geschichte zu erzählen und zu zeigen, warum sie so geworden sind. Lalamis Stärke liegt hier meiner Meinung nach insbesondere darin, dass sie neutral berichtet und nicht bewertet - und vor allem auch zeigt, dass keiner ein makelloses Leben vorzuweisen hat. Schön erzählt ist auch die Liebesgeschichte zwischen Nora und ihrem alten Klassenkameraden Jeremy, die schon fast hoffnungslos wirkt, scheinen die Gräben zwischen einer Zuwanderin des afrikanischen Kontinents und einem Veteranen aus dem Irak-Krieg doch schwer zu überwinden.
Fazit
Laila Lalami hat einen ruhigen Roman über das „Anderssein“, aber auch über die „Zugehörigkeit“ geschaffen. Es ist nicht nur Noras zugewanderte Familie, die in den USA „anders“ ist und von vielen misstrauisch beäugt wird; das „Anderssein“ findet sich auch in der Familie oder in den verschiedenen Nachbarn – auch wenn diese auf den ersten Blick vollkommen „durchschnittlich“ zu sein scheinen. Dennoch lässt sich auch in der Wüste der kleine Wassertropfen der Hoffnung erkennen, das zu finden, was den Menschen an den Ort bindet, an dem er zum Beispiel das Licht, die Stille oder die Einsamkeit liebt, und womit letztendlich auch einen neue Heimat - oder eine große Liebe - geschaffen werden kann.
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