Über Ländergrenzen und Generationen hinweg …
2011, Flughafen Fuhlsbüttel in Hamburg: Ein kleiner Junge, ohne Begleitung und ganz allein, wandert weinend umher und spricht die Leute auf Lettisch an. Nur seinen Namen verrät er nicht, wie oft man ihn auch fragt. Was soll mit ihm geschehen? Und wie kam es überhaupt dazu?
Der Ausgangspunkt der Geschichte ist sein Vater Elroy P. Helfin, der bei einem seiner Auslandseinsätze eine Frau kennenlernt. Sie will mit dem aus der Verbindung entstandenen Kind nichts zu tun haben; er soll ihn nehmen. Doch was immer ihn auch am Flughafen in Hamburg überkommt: Er lässt das Kind allein und reißt verzweifelt aus.
Doch der eigentliche Ausgangspunkt ist noch viel früher zu suchen, in Davenport, Iowa: Dort bringt auf einer Farm das Ehepaar Frade Mitte des 20. Jahrhunderts einen Sohn zur Welt, den sie trotz widriger Umstände durchbringen. Sie rufen ihn nur „the Volunteer“ – „den Freiwilligen“, kurz: Vollie. Vollies bewegtes Leben soll Dreh- und Angelpunkt von Ereignissen sein, deren Auswirkungen sich über Jahrzehnte erstrecken. Eines will Vollie vor allem anderen: sein altes Leben hinter sich lassen. Ein gehörig schiefgelaufener Einsatz in Vietnam wird ihm diese Möglichkeit ganz unverhofft bieten: Ein undurchschaubarer Regierungsbeamter bietet ihm an, in eine komplett neue Identität hineinzuschlüpfen, wenn er im Gegenzug gewisse Leute beschattet. So wird aus Vollie Dwight Tilly. Doch seine Aufgabe endet verhängnisvoll, und schon bald ist er wieder heimat- und wurzellos. Er macht sich auf die Suche nach einem alten Freund, den er zu Kriegszeiten kennenlernte: ein gewisser Bobby Heflin. Doch wird er nicht unbedingt das finden, was er erwartet hat …
„Hass kennt kein Ende, aber Liebe ist eine Sache von Tagen“
Salvatore Scibonas Der Freiwillige ist als episches Meisterwerk angelegt, dessen Inhalt fast ein ganzes Jahrhundert umspannt. Die intimen Geschichten der handelnden Figuren und ihrer emotionalen Verflechtungen werden mit historischen Momentaufnahmen, zahlreichen Nebencharakteren und einem atmosphärisch dicht komponierten Panorama der amerikanischen Gesellschaft verwoben. Jedoch scheint es, als verlöre Scibona bei aller Ambition zur Komplexität das Wichtigste aus den Augen: nämlich, eine mitreißende Geschichte zu schreiben.
„Manchmal denke ich, dass die Menschen gar keine Wahl haben. Keine echte. Sie sind einfach von Natur aus, wie sie sind, und werden immer an derselben Stelle landen, egal, was sie tun“
Der Freiwillige philosophiert über die großen Themen des Lebens: über Bluts- und Wahlfamilien, Gott und Vergebung, Tod und Liebe, Schuld und Sühne. Ein als faszinierend hervorzuhebender Aspekt des Buches ist die neutrale und wertfreie Haltung des Erzählers zu den geschilderten Melodramen. Literarisch ist der Roman höchst anspruchsvoll (auch in der erstklassigen deutschen Übersetzung von Bettina Abarbanell und Nikolaus Hansen). Doch stilistische Brillanz alleine ist nicht genug, wenn sie nicht vom Fundament einer starken, ansprechenden Geschichte und konsequent entwickelten Charakteren getragen wird. Wir verbringen viel Zeit mit den Figuren (allen voran Vollie, den man noch am ehesten als Protagonist bezeichnen kann), doch da die Dialoge im selben hochliterarischen Stil gehalten sind wie der restliche Text, bleiben sie distanziert und schwer greifbar, und nur die wenigsten Schlüsselszenen klingen nach. Mag dies eine bewusste künstlerische Entscheidung sein, so erschwert sie dennoch das Lesevergnügen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Aufbau: Nach dem fesselnden Aufhänger um den verlassenen Jungen am Hamburger Flughafen unternehmen wir eine Zeitreise über 50 Jahre zurück und beschäftigen uns zunächst mit dem Lebens- und Leidensweg von Vollie und dem eher leidlich interessanten Bericht von seiner Zeit in Vietnam – was anfangs wie ein Exkurs wirkt, ist die eigentliche Handlung. Diese macht dann nach fast zwei Dritteln einen neuerlichen, plötzlichen Zeitsprung nach vorne, um das Schicksal des Jungen vom Anfang wieder aufzugreifen, woraufhin nochmals Vollie ausschweifend im Mittelpunkt steht. Erst spät laufen gewisse Fäden zusammen, während andere hängen gelassen werden. Im ganzen Verlauf werden immer wieder gelegentliche Rückblenden sowie „Flash Forwards“ eingestreut. All das ist zwar kunstvoll gemacht, es verhindert aber eine Immersion ins Geschehen. Ein zweites Lesen lässt viele Zusammenhänge in klareren Konturen erscheinen – ein voller Lektüregenuss sollte sich aber bestenfalls schon im ersten Durchgang einstellen.
Fazit
Mit Der Freiwillige stellt Salvatore Scibona unter Beweis, dass er ein wahrhaft versierter Schriftsteller ist. Doch der Roman ist ganz klar etwas für den Kopf und nicht fürs Herz. So gut sich das Buch auch liest, es holt einen nie komplett ab, und nach Beendigung der Lektüre bleibt die Frage nach des Pudels Kern.
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