Ein Brief aus Israel bringt alles ins Rollen
Hannah findet bei ihrer Großmutter Evelyn einen Brief aus Israel: Eine Anwaltskanzlei stellt die Möglichkeit einer Restitution für während des 3. Reiches geraubte Kunstschätze aus jüdischem Besitz in Aussicht. Hannah weiß nichts von jüdischen Vorfahren, und Evelyn stellt auf stur und will nichts erzählen. Hannah recherchiert und stößt auf eine willensstarke Frau mit Namen Senta, die in den 1920er Jahren in Rostock gelebt hat …
Vier Frauen auf der Suche nach Selbstverwirklichung
Hannah, die bis dahin wenig an ihrer Familiengeschichte interessiert war, wird durch den Unmut ihrer Großmutter angetrieben und entdeckt, dass die Frauen in ihrer Familie schon immer nach Selbstbestimmung gestrebt haben: ihre Urgroßmutter Senta, die Mann und Tochter verließ, um in Berlin ihren eigenen Weg zu gehen; Großmutter Evelyn, die ein Studium der Medizin abschloss, aber den gesellschaftlichen Konventionen entsprechend ihren Beruf zu Gunsten der Familie aufgab, bloß um zu merken, dass Hausfrau und Mutter zu sein für sie nicht reicht; und ihre Mutter Silvia, die ebenso wie Evelyn die Bindung zur Mutter verlor und von Beruf „Kreuzbergerin“ wurde. Auch Hannah ist eine Suchende, die in Germanistik promoviert, weil ihr nichts anderes einfällt, und die von einem Leben mit ihrem verheirateten Doktorvater träumt. Die Suche nach den verschollenen Kunstwerken tritt immer mehr in den Hintergrund; vordergründig wird die Geschichte dieser Frauen vermittelt, die lange im Schweigen unerzählt blieb und erst jetzt wieder ans Tageslicht kommt, obwohl die Frauen so viel gemeinsam haben.
Die Leben von Senta bis Hannah
Alea Schröder erzählt die Geschichte von vier Frauen, die sehr unterschiedlich sind und dennoch einen gemeinsamen Nenner haben: den Willen, das Leben zu führen, das sie sich wünschen und nicht das, was die Gesellschaft für sie vorsieht. Die Diskrepanz zwischen dem Muttersein und der eigenen Verwirklichung zieht sich durch die Generationen. Der Weg dieser Frauen ist eingebettet in die Geschichte Deutschlands, vor allem in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg bis 1950. Im 3. Reich musste sich Senta einer besonderen Herausforderung stellen: Ihr zweiter Mann war Jude, durchlitt die Schmähungen ebenso wie das Berufsverbot als Journalist und lebte wie seine Eltern in ständiger Angst. Sein Vater betrieb eine bekannte Berliner Galerie, die er an die Nazis abtreten musste - zusammen mit allen dort befindlichen Kunstgegenständen, unter ihnen ein vermuteter Vermeer. Dieses und weitere Bilder sind der Grund für den Brief aus Israel. Schröder schafft eine spannende Familiengeschichte, die erst durch Hannahs Recherche peu à peu ans Tageslicht kommt und die Hannah mehr verändert als sie es selber wahrnimmt. Gleichzeitig wird die Problematik der Restitution angesprochen, die zwar in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen hat, aber dennoch extrem schwierig und langwierig ist.
Gekonnte Figurenzeichnung in ansprechender Geschichte
Alle Charaktere sind individuell verschieden und glaubhaft angelegt. Nicht nur die Protagonistinnen, auch die Nebenfiguren geben den Zeitgeist wieder und binden den Leser gleich zu Beginn an die Geschichte. Die hasserfüllte und hitlerliebende Tante Trude ist da genauso emotionsfordernd wie Jörg, der Doktorand mit dem ausufernden und vor sich hergetragenen Shoah-Schuldkomplex oder der Doktorvater, der alle nur ausnutzt und sich auch noch im Recht wähnt. Neben der Frage, was aus den Bildern, vor allem dem vermuteten Vermeer, geworden ist, bilden die spannenden Schicksale von Senta bis Hannah den Kern des Romans. Diese fordern den Leser auf, das Frauenbild der vergangenen Jahrzehnte wahrzunehmen und ein paar Gedanken daran zu verschwenden, ob die Emanzipation wirklich schon zu Ende ist. Dabei ist der Roman in einem oft sehr ironischen oder humorvollen Stil verfasst, der die Geschichte nie langweilig werden lässt, obwohl sie manchmal einige Durchhänger hat. Der Schluss ist gleichzeitig ein Anfang, verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart und rundet die Mischung aus historischer Familiengeschichte und Selbstfindungsreise passend ab.
Fazit
Die Journalistin und Autorin Alena Schröder hat sich wieder einmal mit dem Problem der Mutterschaft und gleichzeitiger beruflichen Verwirklichung beschäftigt. Der vorliegende Roman ist eine gekonnte Mischung aus Familien- und Frauengeschichte vor historischen Hintergrund. Wer gerne komplexe Themen in leichtem Gewand verpackt liest, ist hier genau richtig.
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