Erinnerungen, tief vergraben, werden wieder wach ...
London, Mai 1980: Ein Zeitungsartikel über einen versuchten Mordanschlag an einem libyschen Dissidenten lässt Liliana Jones einen Moment innehalten. Etwas spukt in ihrem Kopf, sucht sich einen Weg an die Oberfläche, verschwindet wieder, taucht ab, um eine Weile später zurückzukehren. Erinnerungen an ihre Jugend, an Italien und an Libyen, werden wach. Zuerst sind es nur Fragmente, welche rasch wieder entschwinden; dann kommt plötzlich die Erkenntnis: Einer der beiden Verletzten kennt Liliana ...
Tripolitanien
Liliana Cattaneo ist gerade siebzehn Jahre jung, als sie im Frühsommer 1929 in Tripolis libyschen Boden betritt. Sie ist auf dem Weg zu ihrem Bruder Stefano, der bereits seit einiger Zeit in Tripolitanien lebt und arbeitet. Liliana ist jung, lebenslustig und will der Enge ihres Elternhauses in Monza und dem vom Faschismus geprägten Italien Mussolinis entfliehen. Da ist Tripolitanien gerade richtig. Nicht nur weil ihr geliebter Bruder, ein überzeugter Sozialist, hier Zuflucht vor den Faschisten gefunden hat, sondern weil hier das Leben auf den ersten Blick so ganz anders, so glamourös und verlockend scheint.
Stefanos Wunsch, Liliana für eine Weile nach Tripolis zu holen, ist nicht ganz uneigennützig: Er hat sich eine Beduinenfrau, Farida, an seine Seite geholt und möchte nun, dass seine Schwester sie ‘italianisiert’.
Auf der Reise von Italien nach Libyen steht Liliana unter der Obhut des ehemaligen Vorgesetzten ihres Vaters und dessen Frau, einer Contessa. Das komfortable Leben gefällt Liliana außerordentlich. Sie lernt einen Oberst der Luftwaffe kennen und lässt sich in Tripolis auf eine Affäre mit ihm ein. Anfangs scheint es die perfekte Verbindung zu sein. Obwohl sie mit unmoralischem Verhalten zu kämpfen hat, genießt Liliana das neue, aufregende Leben - und gerät dabei beinahe in eine Art Abhängigkeit. Doch der Oberst ist nicht der, für den Liliana ihn hält, und sie bringt sich und ihre Familie mit ihrer Unbesonnenheit und ihrem Egoismus in akute Gefahr ...
In dem Roman Die fremde Küste erzählt Virginia Baily die Geschichte eines jungen, abenteuerlustigen Mädchens, das sich von den Zwängen des Elternhauses lösen möchte und sich dabei beinahe verliert. Die Autorin nimmt als historischen Hintergrund für ihren Roman die Besetzung Libyens durch Italien. Sie lässt die Zeit der Okkupation wieder auferstehen, erzählt aus dem gesellschaftlichen Leben und verarbeitet gleichzeitig viele historische Details. Die Geschichte springt zwischen der «Buchgegenwart», also 1980, und den 20er Jahren hin und her. Im Jetzt ist Liliana eine ältere Dame, lebt in London und hat erst vor ein paar Monaten ihren Mann verloren. Aus der Zeitung erfährt sie von dem Mordversuch an einem libyschen Dissidenten. Mit diesem Artikel beginnt Lilianas Rückkehr in die Vergangenheit. Diese Erinnerungen sind traumatisch und ängstigen sie noch nach so vielen Jahren. Doch sie weiß: Sie muss nach Rom und nach dem Verletzten sehen.
Die Protagonistin scheint auf den ersten Blick sehr naiv und gutgläubig zu sein. Manchmal möchte man sie am liebsten schütteln und aufwecken. Doch ihr Verhalten ist durch ihre religiöse und politische Erziehung geprägt - eine Erziehung in einem konservativen Umfeld, die nachhaltig wirkt und ihren Lebensweg bestimmt - und entspringt dem bedingungslosen Gehorsam, dem Ausblenden eigener Gedanken. Sie hat nicht gelernt, Dinge zu hinterfragen. So scheint sie Zusammenhänge immer erst sehr viel später zu verstehen - wenn es zu spät zum Handeln ist. Und dieses Verhalten hat sie in arge Bedrängnis gebracht.
«Sie hat sich eine Geschichte zurechtgelegt, in der sie das Opfer war. All die Jahre hat sie sich daran geklammert, weil das einfacher war, als sich der Wahrheit zu stellen.»
Eine spannende Lektüre mit vielen interessanten Details zur italienischen Kolonialisierung Libyens und zu Mussolinis faschistischer Regierung. Eindrücklich und dennoch gut zu lesen, bietet der Roman sehr gute Unterhaltung. Gleichzeitig ist es ein toller Einblick in die italienische und nordafrikanische Kultur.
Fazit
Schritt für Schritt enthüllt sich Lilianas Vergangenheit, die sie tief in ihrem Innersten vergraben hat. Nach und nach öffnen sich die einzelnen Türen der Erinnerung und enthüllen die Wahrheit. Eine faszinierende und tragische Geschichte vor dem Hintergrund der faschistischen Regierung Mussolinis und der italienischen Kolonialzeit in Libyen. Eine bemerkenswerte Lektüre, die viel Interessantes zu vermitteln vermag und bis zum Ende spannend bleibt!
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