Johanna blickt zurück in ihre Kindheit
Nahe Tage erschien 2005 als Debütroman von Angelika Overath. Die vorliegende Ausgabe ist eine Neuauflage, die durch ein Essay über das Schreiben und eine Reportage über eine Reise ins Sudetenland erweitert wurde. Die 1957 geborene Autorin bezeichnet sich selbst als Europäerin; für ihre Mutter gab es aber immer ein „Zuhaus“: eben jenes Sudetenland, aus dem sie vertrieben wurde und in dem sich Overath nach ihrem Tod auf Spurensuche macht. Nahe Tage ist durch die eigene Familiengeschichte der Autorin inspiriert und angestoßen.
Die erste Nacht ohne die Mutter
Johannas Mutter ist gestorben. Zurück in deren Wohnung kommen in Johanna zwischen Couchtisch, Beistelltisch, Telefontisch und Massiveiche-Wohnzimmerschrank Erinnerungen an ihre Kindheit hoch: Die Mutter war immer die dominante Person im Vater-Mutter-Kind-Alltag. Den Vater gab es nur, weil die Mutter ihn als Voraussetzung für ihr angestrebtes Glück als abgesicherte Hausfrau und Mutter brauchte. Sie war eine pedantische, sauberkeitsfanatische Übermutter, die die Tochter als Lebensinhalt sah – heute würde man sie Helikoptermutter nennen. Angekommen war sie in der neuen Heimat nie richtig, „Zuhaus“ war immer noch das Sudetenland. Johanna ist zwar durch Studium und Beruf aus dieser Enge ausgebrochen (sehr zum Missfallen der Mutter), aber dennoch bestand eine nahezu zwanghafte Bindung. Jetzt alleine in der Wohnung muss sie erst einmal den Verlust realisieren und damit fertig werden, dass sie nun nach dem Tod des Vaters auch ohne Mutter dasteht. In der unvertrauten Situation sucht sie ein wenig Halt bei der Pizzabotin Svetlana, die ihr bereitwillig - bei mehr als einem Glas Lambrusco - zuhört.
Unausgesprochenes kann sehr laut sein
Overath bringt mit wenigen Worten das zu Sagende auf den Punkt. Schnörkellos wird die Unfähigkeit der Kommunikation in dieser Familie skizziert, Gefühle werden distanziert betrachtet. In kurzen Erinnerungssequenzen erlebt Johanna noch einmal ihre Kindheit: Sie „wuchs auf unter der Liebesgewalt der Mutter“, sie „war zum Haus der Mutter geworden“ - so beschreibt die Autorin den Zustand zwischen Mutter und Tochter. Zwar hat es „im Mutterkokon Sätze gegeben“, aber Probleme wurden durch Schweigen unaussprechlich unter der Oberfläche gehalten, und diese Sprachlosigkeit wurde perfektioniert. „In einer Familie ist Schweigen Gewalt“, denn sie mauert die Menschen ein und „Johanna begreift, dass sie ein seelisch missbrauchtes Kind war“, vom labilen Vater kaum wahrgenommen, von der Mutter, „die Fürstin ihrer Blumenbänke, die Königin der Einbauküche, die Patriarchin der Haushaltskasse“ emotional ausgebeutet. Dennoch liebt sie die Mutter; es wurde ihr so eingeimpft. „Ihre Macht reichte so weit wie ihr Staubsauger, ihr Polierlappen, ihr Putzlumpen, so weit wie ihre Hand mit dem Schwamm auf der Wachstuchtischdecke, sie erstreckte sich auf Vater, Kind und Großmutter, deren intimen Lebensraum sie peinlich sauber hielt“. Es kann einem Angst werden, wenn man das liest, denn Overath legt den Finger in die Wunde dieser Familie, die sich in Vertreibung und gesellschaftlichem Zwang der Nachkriegsjahre aufgetan hat. Erst nach dem Gespräch mit Svetlana wird Johanna bewusst, dass sie vor einem Neuanfang steht, den es anzupacken gilt.
Svetlana, die deutsch-russische Pizzabotin
Bis Johanna auf Svetlana trifft, kreisen ihre Gedanken; dadurch kommt der Roman in diesem Part ohne Dialoge aus. Kraftvoll und schonungslos erzählt Overath. Erst als Johanna ein Gespräch mit Svetlana beginnt, tut sich eine andere, fremde Komponente auf: Svetlanas Lebensgeschichte. Doch diese einzige Unterhaltung ist fast schon banal zu nennen im Vergleich zur komplexen Gedankenwelt vorher. Sie nimmt dem Roman viel an Intensität, obwohl sie den Wendepunkt einläutet.
Fazit
Nahe Tage ist Johannas intensive und schonungslose Abrechnung mit ihrer verstorbenen Mutter. Manchmal erschreckend, manchmal vielleicht nicht ganz fremd, entführt Angelika Overath den Leser in eine Familie, die durch Verluste und gesellschaftliche Zwänge fast zerbricht. Ein intensives Kammerspiel, dass es zu lesen lohnt.
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