Wehret den Anfängen ..?
Der 20. Juli eines in nicht allzu weiter Zukunft liegenden Jahres: Zum letzten Mal sitzen die Abiturienten Esther, Fabian, Maria, Niklas und Paul in der Geschichtsstunde von Herrn Gertz – ausgerechnet an dem Tag, an welchem sich das berüchtigte Stauffenberg-Attentat wieder jährt. Alle haben sie große Pläne, wollen Journalismus, Philosophie, Ingenieurswesen, Medizin, Geschichte oder Jura studieren. Doch werden sie von den aktuellen Umständen im Land umgetrieben: Gerade hat die Deutsche Aktion, eine Partei am rechten Rand unter dem charismatischen Rudolf Peters, einen großen Wahlsieg errungen. Die Aussichten sind trüb, die Stimmung bei der abendlichen Abschiedsfeier in Fabians Garten ist es ebenfalls. Doch vor dem Hintergrund des geschichtsträchtigen Jahrestages tun sich schon bald schwerwiegende Fragen auf: Kam der Anschlag auf Hitler vielleicht zu spät? Ist die Situation damals mit der heutigen zu vergleichen? Müsse man gar jetzt die Zeichen der Zeit erkennen - und Peters beseitigen ..?
„Um uns herum brennt es“
Autor Bernhard Schlink dürfte vielen wohl vor allem durch den mit David Kross und Kate Winslet verfilmten Weltbestseller Der Vorleser ein Begriff sein. Schon darin befasste er sich auf originelle Art und Weise mit der Thematik des Dritten Reiches im weiteren und Fragen um Schuld und Verantwortung im engeren Sinne. Dieses künstlerische Vorhaben setzt er mit dem Theaterstück 20. Juli fort. Ausgangspunkt ist die politische Lage in einem Deutschland, das mit unserem im Hier und Jetzt nicht identisch, das aber doch allzu vertraut ist. Der junge Lehrer hat mit seinen Vorträgen über Mut und Zivilcourage den Samen gesät, der nun in den fünf Hauptpersonen heranreift. Eigentlich sind sie alle viel zu sehr mit ihrer eigenen Lebensplanung beschäftigt – doch einmal im Raum stehend, lässt die Frage sie nicht mehr los, was es bedeutet, „Wehret den Anfängen“ konsequent zu Ende zu denken …
„Wir müssen stark und böse werden“
Der Stücktext liest sich leicht und flüssig, ist in einer eher alltagstauglichen und nicht stark dramatisierten Sprache verfasst. Die Regieanweisungen sind rar gesät und beziehen sich vor allem auf schauspielerisch zu setzende Akzente, um bestimmten Momenten Gewicht zu verleihen. Neben dem Klassenzimmer und einem Straßenabschnitt spielt der überwiegende Teil der Handlung auf der Party in Fabians Garten. Der Text ist demnach auf das Wesentliche reduziert und oberflächlich betrachtet entsteht Spannung über weite Strecken vor allem aus der Frage: Werden sie ihr ungeheuerliches Vorhaben wirklich in die Tat umsetzen oder nicht? Ein besonderer inszenatorischer Kniff ist Peters, der (selbst während das potenzielle Attentat auf ihn diskutiert wird) durchgängig auf der Bühne ist, als zumeist nur stillschweigend beobachtende, aber allgegenwärtige Präsenz. Gelegentlich gibt er Auszüge aus seinen Reden zum Besten – in denen er aus seinen An- und Absichten so wenig einen Hehl macht, wie Adolf Hitler es von Anfang an tat.
„Wer zu spät schießt, den bestraft das Leben“
Tatsächlich hätte eine etwas differenzierte Auseinandersetzung mit den von Peters vorgebrachten Aussagen interessant sein können. Doch 20. Juli gibt sich als kleine, aber feine Fabel, in der die Parallelen zum politischen Geschehen in der echten Welt zwar deutlich, aber nicht zu deutlich konturiert sind, sondern eher als Hintergrund dienen, vor dem die Positionen der Hauptfiguren frei von Einschränkungen auf die Bühne eines Gedankenexperimentes verlagert und dort verhandelt werden. Diese geraten in Konflikt, erhärten und erweichen sich, ziehen sich als ständiges Für und Wider durch den Text, denn nicht nur sind die Beweggründe der Charaktere nicht deckungsgleich, sondern ist der Aufhänger eine hypothetische Zukunftsvision – keine starke Grundlage für eine Entscheidung in der Gegenwart. Esther, Fabian, Maria, Niklas, und Paul fungieren dabei auch als Stellvertreter der jeweiligen wissenschaftlichen Fachdisziplinen, die zu studieren sie sich entschieden haben. Ulrich Gertz, der noch blutjunge Lehrer hingegen, holt trotz der großen Worte in seinen Unterrichtsstunden alle immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Fabians Großvater, seinerzeit Anhänger der 68er-Bewegung, wird als zusätzliches Element eingeführt, um eine weitere Perspektive zu eröffnen.
„Die Schuld ist eine Primzahl“
Ist die zynische Sicht die „richtige“, nach welcher demokratische und autoritäre Systeme einander in Wellenmustern folgen, ohne dass daran viel zu ändern sei? Oder hat gerade diese Bequemlichkeit dazu geführt, dass auch schon damals niemand rechtzeitig seine Stimme erhob? Handelt es sich bei der Idee der Fünf bloß um jugendliche Fantasterei oder um etwas, das nur allzu real ist und geradezu geschehen muss? In der fiktiven Situation kristallisiert sich heraus, dass die konkrete Frage nach einer etwaigen moralischen Verpflichtung, zu handeln vs. einem moralischen Gebot, es eben nicht zu tun, am Ende gar nicht so zentral ist wie der Diskurs über die verschiedenen Sichtweisen unterschiedlicher Generationen und der ihnen zugehörigen Individuen über ihr Leben, den Zustand der Welt und ihre Rolle darin.
Trotz der inhaltlichen Stärken fehlt dem Stücktext 20. Juli aber leider doch das gewisse, aber entscheidende Etwas: die Live-Situation. Besonders der Schluss kommt etwas abrupt und überraschend, doch ist bewusst offen gehalten – denn ein Stück wird nun einmal geschrieben, um inszeniert und von Schauspielern zum Leben erweckt zu werden, damit es mit dem Publikum in direkten Dialog treten kann. Es will zum Nachdenken über die eigene Positionierung anregen, und das funktioniert eben dann am besten, wenn es performt und betrachtet wird statt „nur“ gelesen.
Fazit
Bernhard Schlinks 20. Juli ist eine erfrischend zu lesende politische Parabel, die gute Denkanstöße zu bieten hat. Bleibt zu hoffen, dass sie möglichst bald dort anzutreffen sein wird, wo sie hingehört – nämlich auf der Bühne.
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