Blutrot wie das Leben und der Tod
Diamanten – sie bedeuten Filippo alles. Der Gemmologe arbeitet bei einem renommierten Juwelier und darf die kostbaren Steine tagein, tagaus begutachten. Jeder ist einzigartig und erzählt eine Geschichte – doch nicht immer ist es eine schöne Geschichte. Filippo reicht es, Diamanten zu betrachten, statt sie zu besitzen.
Alles soll sich ändern, als Ludò (kurz für Ludovica) in sein Leben tritt. Nicht nur ist die Tochter eines wohlhabenden Kunden ein ganz besonderer, rastloser, sehnsuchtsvoller und höchst eigenwilliger Mensch, sie trägt auch noch einen „Fancy Vivid Red“ als Nasenpiercing – einen leuchtend roten Diamanten von unermesslicher Reinheit und unschätzbarem Wert.
Filippo und Ludò heiraten, reisen kreuz und quer durch Europa und ergehen sich in hedonistischen Ausschweifungen. Doch ein Griechenlandurlaub soll ihnen zum Verhängnis werden: Eine hübsche, junge Frau namens Isabel lädt sie an den Pool der Villa nebenan ein. Am nächsten Morgen ist Ludó tot, der „Fancy Red“ verschwunden, und Filippo kann sich an nichts erinnern. Auch aus Isabel bekommt er nur leidlich Informationen heraus. Um möglichen Konsequenzen zu entgehen, versenken die beiden zusammen Ludòs Leiche im Meer und gehen getrennter Wege.
Doch es soll gar nicht allzu viel Zeit vergehen, bis Filippo der Edelstein wieder in die Hände fällt – und zudem mysteriöserweise auch Isabel. Das Mädchen habe in der Villa nur geputzt und sich als jemand ausgegeben, der sie nicht ist, beteuert aber weiterhin ihre Unschuld. In Filippo keimt ein entsetzlicher Verdacht: Könnte er die Tat begangen haben? Im Versuch, den Geheimnissen auf den Grund zu gehen, findet er Erschütterndes heraus über einen schrecklichen Bootsunfall, an dem Ludò und ihr undurchsichtiger Ex-Lover Flavio beteiligt waren – der, wie es der Zufall (?) so will, auch in der Nacht ihres Ablebens zugegen war. Außerdem fallen Filippo Briefe seiner verstorbenen Frau in die Hände, aus denen hervorgeht, dass sie adoptiert war und als Kind zu Zeiten des Bosnienkrieges im belagerten Sarajevo aufwuchs. Wer war Ludò wirklich? Scheinbar ist nicht alles diamanten, was glänzt …
„Dieser Edelstein hatte mich ausgewählt, so wie ich ihn“
Caterina Bonvicinis Debutroman Das Gleichgewicht der Haie avancierte schnell zum Bestseller. Heute zählt sie zu den namhaftesten italienischen Autorinnen. Ihre Erfolgsgeschichte setzt sie mit Fancy Red fort. Als Inspiration diente Bonvicinis eigene Kurzgeschichte Der süße Duft des Elends von 2014, welche sie zum Roman ausbaute. Von Anfang an ist offenbar, dass in diesen sehr viel akribische Recherche eingeflossen ist. Nicht nur fesseln die historischen Hintergründe, auf welche sich die Handlung gelegentlich bezieht, man erfährt beim Lesen auch noch eine ganze Menge über die Gemmologie.
Im Nachwort schreibt Bonvicini über Fancy Red: „Ich habe den Roman als Oktaeder aufgebaut (die acht dreieckigen Flächen werden zu acht dreigeteilten Kapiteln), denn das ist die Kristallstruktur des Diamanten.“ Dies ist eine durchaus treffende Beschreibung. Zum Teil hüpfen diese Kapitel von Ort zu Ort und in der Zeit vor oder zurück. Gerade dieser Aufbau erschwert aber auch den Einstieg. Der Roman ist höchst anspruchsvoll und verlangt der Leserschaft einiges ab – vor allem, da gerade zu Beginn keine der Figuren als Sympathieträger durchgeht und man emotional auf Distanz gehalten wird.
„Nur die Diamanten kennen den Raum zwischen zwei parallelen Schicksalslinien, der allen anderen ein Rätsel ist“
Doch mit jeder neuen, schillernden Facette, die sich zeigt, verfällt man dem Sog der Geschichte mehr und mehr. Trotz der Farbintensität des titelgebenden Diamanten ist Fancy Red ein geistiger Ableger der „noir“-Tradition und vereint psychologisches Kammerspiel, Kriminalgeschichte, Gesellschaftskritik und Beziehungsdrama zu einem einzigartigen und faszinierenden Page-Turner. Ähnlich wie sich das Antlitz eines Edelsteins mit jeder noch so kleinen Änderung von Lichteinfall oder -brechung verwandelt, so eröffnet jede Zeile von Bonvicinis feingeschliffener Prosa andere Perspektiven (dies bleibt auch in der kunstvollen Übersetzung Verena von Koskulls erhalten). Und je weiter das Buch in die Tiefen seiner Figuren und ihrer unvereinbaren Sphären vordringt, desto weniger will man es aus der Hand legen.
Die Obsession um den „Fancy Red“dient dabei als Dreh- und Angelpunkt, doch bündelt und bindet dieser lediglich die menschlichen Melodramen in sich, die um ihn herum geschehen und ihm fortan anhängen, verstärkt die Kontraste gesellschaftlicher Ungleichheit, versinnbildlicht die unüberwindbare Kluft zwischen Arm und Reich, verwischt die Grenzen zwischen Liebe und Gewalt. Wie ein Blutdiamant gibt er wertfrei Auskunft darüber, wozu Menschen in der Lage sind, vermittelt gleichzeitig aber auch ein Verständnis ihrer Beweggründe. Am Ende sind alle Figuren auf die ein oder andere Art seinem Glanz verfallen – so auch die Leserschaft.
Fazit
Fancy Red von Caterina Bonvicini verdient das Label „Selections”: Die ungewöhnliche Lektüre kommt der Betrachtung eines exotischen Edelsteins gleich. Ein Roman, auf den man sich einlassen muss – doch man wird es nicht bereuen!
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