Frequenzsuche in der Nachwendezeit
Zwei Tage nach dem Fall der Mauer fährt Carl Bischoff im Gewühl der überfüllten Bahnhöfe von Halle zu seinen Eltern nach Gera. Seit Monaten hat er sich nicht mehr bei ihnen gemeldet, und auch vom Abbruch seines Studiums wissen sie nichts. Das Drahtwort, das Telegramm, das ihn am Vortag erreichte: „wir brauchen hilfe komm doch bitte sofort deine eltern.“, lässt den einzigen Sohn jedoch sofort aufbrechen.
Getrennte Wege in Ost und West
Zu Hause offenbaren Mutter und Vater, dass sie in den Westen wollen, bevor die Grenzen vielleicht wieder schließen, und bitten Carl, sich um ihre Hinterlassenschaften zu kümmern. Carl trifft diese Entscheidung mit der Wucht des Unbegreiflichen und ihm wird bewusst, wie wenig er die beiden eigentlich kennt. Auch in dieser Situation bis zum Abschied am Grenzübergang, von wo Inge und Walter Bischoff es bis ins Notaufnahmelager schaffen wollen, bleibt in der Familie vieles ungesagt.
Carl hält zunächst die Stellung in Gera. Er lebt zurückgezogen in der leeren Wohnung und wartet auf Nachricht von den Losgezogenen, die aber nicht eintrifft. Kindheitserinnerungen werden wach, während er in dieser Abgeschiedenheit an seinen Gedichten arbeitet - vor allem auch die Empfindungen zu der Nachbarstochter Effi, seiner großen heimlichen Liebe. Nach einigen Wochen schlägt die Isoliertheit zunehmend in Verwahrlosung um. Carl ergreift die Wut des Verlassenen. Er setzt die Wohnung wieder in Stand, packt die Werkzeugsammlung seines Vaters
in dessen liebevoll gepflegten Shiguli und fährt nach Berlin.
Der Shigulimann und das Rudel
In den ersten Tagen erkundet Carl die für ihn fremde, im Wandel begriffene Stadt. Der Shiguli dient gleichzeitig als Schwarztaxi und Schlafplatz. In einem Hinterhofkino trifft er dann auf das „kluge Rudel“, eine Gemeinschaft junger Leute unter Führung des charismatischen Hoffi, dem Hirten mit seiner Ziege Dodo, die ihn in ihren Kreis aufnimmt. Die Gruppe sieht sich im Guerillakampf um leerstehenden Wohnraum. Carl selbst bezieht eine derartige Vakanz. Seine Dienste als gelernter Maurer, dazu sein Werkzeug und der Wagen, erweisen sich als nützlich, besonders bei Einrichtung der „Assel“, einer Kellerkneipe, in der Carl nach Fertigstellung nebenbei kellnert. Denn vor allem arbeitet er mit Ernsthaftigkeit daran, sich Dichter nennen zu können. Als er bei einer Kunstperformance Effi wieder begegnet, wird ihre Beziehung zu der weiteren bestimmenden Größe in seinem Leben. Und so ist Carl inmitten anarchischer Zeiten mit oft skurillen Begebenheiten und obskuren Gestalten auf der Suche nach persönlicher Stabilität.
Rübergemacht und on the road
In der Zwischenzeit erreichen ihn postlagernd erste Neuigkeiten der Eltern: Seine Mutter beschreibt in ihren bald wöchentlichen Briefen zunächst die Odyssee durch Auffanglager und Notunterkünfte, später die Arbeitssuche, erste Beschäftigungen und ihre Gedanken und Gefühle zu ihrem Flüchtlingsdasein. Dabei kommt sie Carl auf ungewohnte Weise nah, ohne dass die Fremdheit, die Carl zu den Eltern nach ihrem unvermuteten Weggang empfindet, vergeht.
Zumal die Worte der Mutter erahnen lassen, dass die Eltern mit Westdeutschland ihr eigentliches Ziel noch nicht erreicht haben. Nach einer anfänglichen Trennung haben Inge und Walter in Diez wieder zusammengefunden, wo der Vater schon bald eine gut bezahlte Anstellung bekommt. Von dort planen die Eltern die nächsten Schritte auf ihrem neu eingeschlagenen Lebensweg.
Stimmungsbild der Nachwendezeit
Autor Lutz Seiler kehrt mit Stern 111 für eine Momentaufnahme in die ersten Jahre der Nachwende zurück und lässt die Auf- und Umbruchstimmung dieser Zeit in den Erzählsträngen um Carl und seine Eltern wieder aufleben. Sein Buch wird so zum authentischen Berlin-Bild, Fluchtdoku und Familienroman gleichermaßen.
Wenn vor der Kulisse einer Welt im Wandel sich auch die Familie Bischoff gänzlich neu ordnet, wird nachvollziehbar, welchen Einfluss der gesellschaftliche Neubeginn Deutschlands auf die Biographie des Einzelnen haben konnte. Inge und Walter ergreifen ihre Chance mit der Flucht in den Westen, einen Jugendtraum doch noch wahr werden zu lassen, und stellen ihren Sohn damit vor die Aufgabe, zu erkennen, dass ihr Leben mehr birgt als die Elternschaft; nicht einfach für Carl zu akzeptieren, denn eigentlich ziehen doch die Kinder in die Welt und nicht die Eltern.
Sich von der Zweisamkeit der Eltern ausgeschlossen fühlend, hinterfragt er die familiäre Gemeinsamkeit seiner Kindheit. Sinnbild hierfür ist das Stern 111, das Kofferradio, das Zentrum des damaligen Familienlebens. Als Antwort auf die alles erfassende Bewegung um ihn herum verlässt Carl in einer Gegenbewegung seinen Nachhutposten in Gera, um in Berlin den selbstgewählten Lebensentwurf des Dichters, zu verwirklichen. Seiler, selbst in Gera geboren und als Lyriker gestartet, verleiht dem im Schreibprozess mit sich ringenden Carl dabei mitunter biographische Züge. Gleichzeitig versetzt er Carl als „Rudelmitglied“ mitten hinein in eine politisch aktive Szene und lässt ihn - geprägt von dessen ostdeutscher Herkunft - mit Begrüßungsgeld, Währungsreform und Einheit die schrittweise Rückkehr aus einer anarchischen Welt voller Utopien in einen reglementierten Staat erleben. Sprachlich virtuos aufs Papier gebracht, gelingt es Seiler äußerst facettenreich und sinnlich, die Atmosphäre jener Tage mehr als dreißig Jahre später erneut spürbar zu machen.
Fazit
Lutz Seilers 2020 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter Nachwenderoman führt als fiktiver Zeitzeugenbericht zurück in einen bewegt bewegenden Teil deutscher Geschichte. Im Chaos wegbrechender Strukturen öffnet sich der Raum für politische Utopien und persönliche Träume. Die Stimmung dieses besonderen Moments wird eindrucksvoll eingefangen und bewahrt. Diese literarische Erinnerung macht das Buch lesenswert und bedeutsam.
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